La lisière - Am Waldrand (2010)

Eine Filmkritik von Lida Bach

Das Dorf der Verdammten

Alle ahnen, was geschehen ist. Kinderschuhe, ein glitzernder Rock, unsichere Schritte in der Nacht. Ein junges Mädchen, ein anhaltendes Auto, ein erwachsener Mann. Er geht schneller, sie blickt angstvoll zurück. Im Morgengrauen liegt etwas im feuchten Gras. Der Forstarbeiter, der es entdeckt, hält entsetzt inne. Ein Verbrechen ist am Waldrand geschehen in Géraldine Bajards brillantem Psychogramm einer geschlossenen Gesellschaft.

Der gerade zugezogene Arzt Francois fragt sich, was gespielt wird. Die jugendliche Claire kennt die Regeln des Spiels. Die Karten verteilt Géraldine Bajard. Der Zuschauer legt sie selbst. Das cineastische Spiel heißt La lisière. Fait votre jeu. Ein ungutes Gefühl beschleicht Francois (Melvil Poupard), als er die tadellose Wohnung in Beauval besichtigt. Dennoch zieht der junge Arzt mit seiner Freundin aus der Stadt in eines der Häuser, welche die Straße durch ein dichtes Waldstück säumen. Nach Beauval, dem „schönen Tal“, das nicht so schön ist. Ein kleines Mädchen (Marie Fritel-Sina) ist umgekommen. Für eine besondere Nacht hatte sie sich hübsch gemacht, sich wie eine Erwachsene geschminkt. So tun es alle Mädchen in Beauval. Die anderen Kinder haben zugesehen. Das erste Mal. Sie konnte es nicht tun. Der Fahrer des Wagens ist geflohen. Niemand weiß, wer es war. Doch die Kinder haben einen Verdacht. Sie beobachten ihn, glaubt Francois. Am Waldrand spielen sie seltsame Spiele. Wie kindlich sind sie in Wahrheit? Ihr Anführer Cedric (Phénix Brossard) kommt in sein Haus. „Die Kinder haben eine besondere Energie“, lächelt eine Fotografin aus Beauval zu Francois. Ein nächtlicher Besuch von Francois bei Claire (Alice De Jode). Wie viel weiß sie?

Mehr als Francois, mehr als der Zuschauer. Die ganze Wahrheit weiß aber nur Géraldine Bajard. Jeder Zug ihres ingeniösen Kinospiels ist präzise geplant, jeder Dialogsatz sorgfältig abgewogen, als hätten ihn die wunderbar perfiden Charaktere ersonnen. Das Plaudern der Anwohner ist verschwiegen. Alle reden, ohne etwas zu verraten. Auch Bajards doppelbödiges Spielfilmdebüt verrät nichts. Die Drehbuchautorin und Regisseurin, die zuvor als Dramaturgin an Jessica Hausers nicht minder subtilem Film Lourdes mitarbeitete, verflechtet mit inszenatorischer Raffinesse ihre hintersinnigen Andeutungen zu einem Handlungsstrick, der dem Publikum die Kehle zuschnürt. Systematisch führt der komplexe Psychothriller in die Irre. Indem sie in bitterböser Weise vorgefertigte Erwartungen manipuliert, zeigt Bajard dem Zuschauer seine eigenen Vorurteile auf. La lisière bedeutet hier nicht nur Waldrand. Es ist Grenzgebiet, Randgebiet, sexuell, psychologisch, emotional. Die so beschriebene Grenze trennt die strenge Zivilisation der Privatsiedlung von der Wildnis des Unterbewusstseins.

Der triste Chic der kalten Villenfassaden ist eine Festung inmitten bedrohlicher Baumschatten. Gesichert wird sie durch den eisernen Zusammenhalt ihrer Bewohner. Fataler als ein Eindringling wäre ein Verräter in ihrer Mitte. Unablässig muss deshalb die Titel gebende „Grenze“ gesichert werden. Im Dickicht wuchernder Triebe regiert nicht die Gesetzlosigkeit, sonder ein eigenes Regelwerk. Die Kinder handeln danach, müssen folgen wie alle anderen. Der stechende Blick der Jugendlichen, ihre Frühreife in der Grausamkeit und der Sexualität ist beklemmender als drastische Gewaltszenen. Die pathologische Atmosphäre heimlicher Begierde und erwachsener Wollust, welche der Hauptcharakter um sich spürt – wohltuend spürt, wie Francois sich zu seinem eigenen Schrecken eingestehen muss – scheint ein dunkles Erbe, das in der Waldeinsamkeit über Generationen weitergegeben wurde. Doch Bajard erlaubt keine beruhigende Erklärung, keine Flucht in übernatürlichen Horror oder laienpsychologische Begründungen. Allein der Schrecken bleibt zurück. Bajard zwingt den Zuschauer, sich selbst als naiv und allzu selbstgewiss zu erkennen, ein verlorenes Kind „am Waldrand“.

Verspielt. Rien ne va plus. Gewonnen hat Géraldine Bajard. Ihre erste Partie Regie — ein bravouröser Sieg! Der Zuschauer zittert. Keiner ahnte, was geschehen würde.
 

La lisière - Am Waldrand (2010)

Alle ahnen, was geschehen ist. Kinderschuhe, ein glitzernder Rock, unsichere Schritte in der Nacht. Ein junges Mädchen, ein anhaltendes Auto, ein erwachsener Mann. Er geht schneller, sie blickt angstvoll zurück. Im Morgengrauen liegt etwas im feuchten Gras.

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