Korankinder

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Im Inneren der Madrasas

Der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sah in ihnen eine der Brutstätten des fundamentalistischen islamischen Terrors und schrieb im Jahre 2003 in einem Memo: „Können wir jeden Tag mehr Terroristen festnehmen und töten oder von ihren Taten abhalten, als die Madrasas und die radikalen Geistlichen rekrutieren, ausbilden und auf uns loslassen?“ Andere Männer wie etwa der Historiker und Autor William Dalrymple sehen das anders. Für ihn ist die Verbindung der Koranschulen zum islamischen Terrorismus keineswegs so eindeutig, wie dies Rumsfeld sieht. In seinem Artikel „Was lehren Pakistans Koranschulen?“ (erschienen in Le Monde Diplomatique am 10.3. 2006) kommt er zu dem Schluss, dass es den Absolventen der Madrasas vor allem darum gehe, im eigenen Land für eine möglichst korrekte Lebensweise im Sinne des Koran zu sorgen. Fakt ist, dass die Madrasas in der islamischen Welt enorm an Bedeutung gewinnen. Dem aus Bangladesch stammenden Filmemacher Shaheen Dill-Riaz (Eisenfresser) ist es in seiner Heimat gelungen, trotz des strengen (aber nirgendwo im Koran verankerten) Bilderverbots in einigen Koranschulen des Landes zu drehen. Es sind Bilder und Einblicke in eine Institution, wie man sie nur ganz selten zu sehen bekommt.
Dabei sah es am Anfang nicht so aus, als wolle man dem Filmemacher den Zugang gewähren. Erst die Fürsprache eines Freundes der Familie, die in Bangladesch zu einer privilegierten Oberschicht gehört, öffnet ihm schließlich die Türen zu den Madrasas. Was er dort sieht, bringt ich ebenso zum Staunen wie den Zuschauer: In langen Reihen hocken hier Kinder vor dem Koran, wiegen sich rhythmisch vor und zurück und murmeln, singen, rezitieren die 6234 Verse, die sie bis zum Ende ihrer religiösen Unterweisung auswendig lernen sollen. Mit der Kamera nahezu in Bodenhöhe fährt Shaheen Dill-Riaz die langen Reihen ab und schafft so eindrucksvolles Bild, dessen Wirkung man sich nicht entziehen kann.

Für die Kinder, die zumeist aus der armen Unterschicht des Landes stammen, sind die Madrasas oft ein Rettungsanker und eine der wenigen Möglichkeiten, überhaupt eine gute Ausbildung zu erlangen und ein „Hafiz“ zu werden. Wobei man sich über die Sinnhaftigkeit des Erlernten schon streiten kann. Das sture und stupide Auswendiglernen der Koranverse, die zudem auf Arabisch gepaukt werden (was in Bangladesch kaum jemand beherrscht), spricht nicht gerade dafür, dass den Kindern ein fundierter Umgang mit dem Buch der Bücher der Muslime beigebracht wird.

Zwar schaffen manche Kinder den Absprung aus den Madrasas und den Sprung zurück auf eine normale Schule oder gar an die Universität. Doch viele brechen die Ausbildung zum Hafiz ab, verlieren durch die sture Paukerei die Lust am Lernen und enden so ohne abgeschlossene Ausbildung.

Das Unbehagen, das man beim Shaheen Dill-Riaz’ Film entwickelt, speist sich nicht aus der undifferenzierten Angst vor einem terroristischen Potenzial der Koranschulen, sondern wegen der rigiden Art des Lernens und der Art und Weise, wie dort nicht auf die Bedürfnisse von Kindern eingegangen wird. So sehr die Madrasas vielen Kindern als einziger Ausweg erscheinen, so sehr zementieren diese Einrichtungen auf der anderen Seite Unfreiheit und Ungerechtigkeit. Und das, so vermutet man beim Betrachten dieses Filmes, ist nicht nur in Bangladesch so.

Korankinder verbindet auf bemerkenswerte Weise Einblicke in die Madrasas mit dem privaten Blick von Shaheen Dill-Riaz auf seine eigene religiöse Erziehung und auf die Entwicklung des Islam in seiner Heimat Bangladesh. Er urteilt nicht, sondern stellt Fragen – an sich selbst, an seine Angehörigen, die allesamt zur privilegierten und nicht sonderlich religiösen Mittel- bis Oberschicht im Lande gehören. Und er gibt keine Antworten. Doch dass sich in Bangladesch dringend etwas ändern muss, das merkt man als Zuschauer sowieso ganz schnell. Spätestens dann, wenn man in die Gesichter der Korankinder sieht.

Korankinder

Der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sah in ihnen eine der Brutstätten des fundamentalistischen islamischen Terrors und schrieb im Jahre 2003 in einem Memo: „Können wir jeden Tag mehr Terroristen festnehmen und töten oder von ihren Taten abhalten, als die Madrasas und die radikalen Geistlichen rekrutieren, ausbilden und auf uns loslassen?“
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