Kleine wahre Lügen (2010)

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Vom Zerfall im Angesicht des Todes

Er ist nicht mehr ganz jung, dieser Ludo, er bewegt sich durch den Nachtclub mit der ruhigen Sicherheit jener, die dort öfter unterwegs sind; die ihm gerade erst vorgestellte Freundin eines Bekannten küsst er ungefragt auf den Mund, und nachher freut er sich über den gelungenen Coup. Aber dann ist es, als ob ihn eine Erinnerung, ein Gedanke trifft und Traurigkeit überfällt; vielleicht war es auch einfach nur ein Schluck, ein Glas zu viel. Er greift seinen Helm aus der Garderobe und fährt dann auf seinem Motorroller in den Pariser Morgen hinein, über die Seine – bis er plötzlich von einem Lastwagen gerammt wird.

Das ist ein echter Schock – nicht nur deshalb, weil die ganze erste Szene bis zum Unfall in einer einzigen, anscheinend ungeschnittenen Aufnahme gezeigt wird, sondern auch weil sich in Jean Dujardins – Ludos – Gesichtszügen eine Ahnung von Midlife Crisis, von mühsam aufrecht erhaltener Fassade, von Lebenslügen eben ahnen ließ: Da steckte schon eine ganze Geschichte nur in den kurzen Momenten, bevor er den Helm aufgesetzt hatte. So wird sein Unfall nun zum Anfangs- und letztlich auch Kulminationspunkt der Geschichte seiner Freunde, die bald in identisch aussehenden blauen Papieranzügen vor seinem Krankenbett stehen.

Guillaume Canet lässt sich dann immer noch reichlich Zeit für eine breit angelegte Exposition, um alle diese Figuren vorzustellen – das spiegelt sich dann schließlich in den zweieinhalb Stunden Laufzeit seines Filmes Kleine wahre Lügen, die schon formal deutlich machen: Hier will jemand eine Geschichte als großen Wurf inszenieren, womöglich den Ensemblefilm auch als Drama aller einzelnen von innen nach außen kehren.

Und so bekommen all diese Freunde, die offenbar schon seit vielen Jahren eine enge Clique bilden, ihre eigenen Sorgen und Lügen. Da ist Max (François Cluzet), in dessen Feriendomizil sich die Freunde immer wieder treffen, vielbeschäftigter Hotelier, der nie zur Ruhe kommen kann und dann auch schon mal aggressiv wird; sein Osteopath Vincent (Benoît Magimel) hingegen ist eher zu sanft und kämpft mit widerstrebenden Emotionen Max gegenüber. Antoine (Laurent Lafitte) kann die Trennung von seiner Freundin Juliette nicht ertragen und nervt alle anderen pausenlos damit, dass er ihre Kurznachrichten auszudeuten versucht, während Marie (Marion Cotillard) sich gar nicht erst binden will und sich ein, zwei junge Männer als reine Sexbeziehungen warm hält. Und Eric (Gilles Lellouche) schließlich ist ein kleiner Abenteurer, den Marie zuweilen aus allzu wilden Verabredungen unter einem Vorwand wieder herausholen muß.

Sie alle fahren – mit Partnerinnen, mit Kindern – gemeinsam auch dieses Jahr wieder ans Meer, obwohl Ludo nicht dabei sein kann – in zwei Wochen wollen sie wiederkommen, wenn es ihm besser geht und er ihre Besuche auch mitbekommt. Canet montiert das gekonnt, die Szenen unbeschwerten Urlaubens, aus denen deutlich wird, wie vertraut sie alle miteinander sind, mit viel Herzlichkeit und gelegentlichem Foppen – und dann die Momente, in denen sich die Risse aufzeigen, zwischen den Freunden, aber mehr noch im Selbstbild der einzelnen.

Natürlich kann sich der Regisseur dabei auf seine Darsteller verlassen, die ihre Figuren ohne großen Mühen mit Leben und Komplexität auch über das Gesagte hinaus füllen – große Namen des französischen Kinos sind sie allesamt, Cotillard dürfte auch geholfen haben, den Film über die Grenzen des Landes hinaus interessant werden zu lassen, schließlich ist sie nach Public Enemies und Inception inzwischen international bekannt. Dann hilft womöglich auch, dass der Film sehr genau die Erwartungen trifft, die ein bildungsbeflissenes Publikum gerne an französische Dramen stellt: Gute Freunde aus dem gehobenen Pariser Bürgertum, die ihre Probleme und Missverständnisse beim Essen ausdiskutieren, und natürlich geht es viel um Liebe und Sex.

Das ist flott und unterhaltsam und durchaus nicht altbacken gestrickt; eine der Frauen sucht nachts nach Befriedigung in einem Sexchat, es geht am Rande um weibliche wie männliche Homosexualität und Homophobie – aber Canet mag das alles dann doch nicht zu einem größeren Thema mit wirklichen Problemen machen. Und genau in dieser fehlenden Tiefe liegt dann auch das Problem von Kleine wahre Lügen: Es wird – in den unterschiedlichen Figuren – viel Allzumenschliches angerissen, aber der Film fügt dem in seiner zweiten Hälfte nur noch wenig Neues hinzu. Dadurch wirken die eingangs so lebendigen Figuren später wie leicht starre Abziehbilder einer Typologie, und das so ausführlich ausgebreitete Szenario macht einen zunehmend dicht gedrängten Eindruck.

Zudem fällt auf, dass der Film – außer der aber eher am Rande mit abgehandelten Marie – vor allem Männer und ihre emotionalen Probleme kennt. Das ist einerseits eine angenehme Abwechslung zu den gefühligen Frauengeschichten, die das Kino in allzu großer Zahl ausspuckt – und andererseits deshalb irritierend, weil Canet im Gegenzug die Frauen zu Randfiguren und Erfüllungsgehilfinnen der männlichen Gefühlsentwicklung degradiert.

Canet ist in Frankreich und ein wenig auch international vor allem als Schauspieler bekannt; Kleine wahre Lügen ist aber nach Ne le dis à personne und Mon idole schon seit dritter Langfilm, und gerade ersterer war in Frankreich durchaus erfolgreich und hat einige César eingeheimst. Und so gelingt auch seinem neuen Film das Wesentliche: der Zugriff auf die Tränendrüsen der Zuschauer. Die Taschentücher, die der Film im doppeldeutigen französischen Originaltitel Les petits mouchoirs enthält, kommen also sicher zum Einsatz, wenn am Schluss die richtig großen Emotionen verteilt werden. Die schweißen dann anscheinend doch zusammen: Freunde fürs Leben eben.
 

Kleine wahre Lügen (2010)

Er ist nicht mehr ganz jung, dieser Ludo, er bewegt sich durch den Nachtclub mit der ruhigen Sicherheit jener, die dort öfter unterwegs sind; die ihm gerade erst vorgestellte Freundin eines Bekannten küsst er ungefragt auf den Mund, und nachher freut er sich über den gelungenen Coup.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Kaspar Hauser · 13.08.2011

Der Film ist genauso oberflächlich wie seine Hauptdarsteller. Keines der angerissenen Themen erfährt eine Weiterentwicklung, ebenso wenig die Protagonisten. Ich frage mich, welche Botschaft soll mir dieser Film mitgeben. Ist das eine sozialkritische Bilanz einer franz. Schicht? Oder soll der Film an einem bewährten Konzept des franz. Films der 70.-Jahre anknüpfen, wo Sautet in seinen Filmen die gehobene Mittelschicht portraitierte, wobei er als Schauplätze auch die Landsitze, auf die sich die französische Bourgeoisie im Sommer gerne zurückzieht, einsetzte. Resultat: Ärger mit Überlänge.

Forian Fitz · 31.07.2011

Ein genialer Film, den man nicht verpassen sollte. Keine der 154 Minuten ist langweilig.

Susanne · 25.07.2011

Sehr realistisch - und macht betroffen

Martha · 21.07.2011

Toller Film!

Heinz · 17.07.2011

Viele Ebenen des Lebens mit Schwung, Witz und einem Schuss indivuduelle Alltäglichkeiten und Eigenarten amüsant und kurzweilig erzählt.

Jacobus · 14.07.2011

Spitzenfilm. That's life.

Anneliese Eveque · 11.07.2011

Nerviger Film, langweilig und breitgetreten!

Carla · 08.07.2011

Wunderbar witzig und geht ans Herz!

Geos · 30.06.2011

Bester Film seit langem