KindKind (TV-Serie, 2014)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Der Irrsinn in Serie

Gemeinsam zu essen ist nicht so spannend. Wenn KindKind (es nennen ihn wirklich alle so) kann, nimmt er sein Mittagessen, eine Schale Suppe mit etwas Brot, nach draußen in eine etwas ruhigere Ecke des Bauernhofs, wo der Blick hauptsächlich auf den Misthaufen fällt und dann noch ein wenig auf die Felder und Bäume dahinter.

Das ist einer der frühen Momente in KindKind, einer vierteiligen Miniserie von Bruno Dumont, die er für ARTE gedreht hat, und es ist bei weitem nicht der seltsamste oder irritierendste. Irgendwo an der französischen Nordküste ist ein Mord passiert, daraus wird dann eine Mordserie: Leichenteile, die im Darm von Rindern gefunden werden. Das wäre ein geeigneter Startpunkt für einen splattrigen Kriminalfilm im skurrilen Dorfmilieu, aber Dumont interessiert sich wirklich nur am Rande für das Whodunnit und Polizeiarbeit.

Dafür sind seine Polizisten auch nicht wirklich geeignet: Commandant Van der Weyden (Bernard Pruvost) wirkt wie ein Columbo-Verschnitt, der aber leider wirklich keine Ahnung hat und stattdessen gerne mal die Pistole zückt, um in die Luft zu schießen. Sein Kollege Carpentier (Philippe Jore) hingegen hört ihm andächtig zu und wünscht sich vor allem, mal seinen Polizeiwagen auf zwei Rädern fahren lassen zu dürfen. Gemeinsam stolpern sie von einer Leiche (samt Kuhkadaver) zur nächsten, durch Dörfer mit sehr schweigsamen Menschen, die auch engste verwandtschaftliche Beziehungen erst dann aussprechen, wenn sie direkt danach gefragt werden.

Dazu gibt es dann weite Landschaften und immer wieder das Meer, viel blau- bis stahlgraue Natur, dazwischen Misthaufen und Nutzbauten. Mittendrin KindKind und seine Freunde, die Polizisten mit Knallfröschen ablenken, in der Kirche ins Weihrauchfass spucken und ein paar Jungs durchs Dorf jagen, deren Gesichter und Hautfarbe ihnen nicht passen – oder einfach nur, weil ihnen sehr, sehr langweilig ist. Auch das nimmt aber nie politische Bedeutung an, sondern wird, wie eigentlich alles, ins Groteske aufgelöst und zugleich zu einer Grundstimmung zusammengeschnürt, die ein womöglich dichteres Bild der Region zeichnet als der quietschfreundliche Willkommen bei Sch’tis.

In den weitgehend euphorischen frühen Kritiken zur Serie – gedreht überwiegend mit Laienschauspielern – wurde KindKind gerne als europäische Antwort auf Twin Peaks gelesen. Das liegt, gewissermaßen im Einklang mit dem Vergleichspunkt, recht passend daneben. Großartiges, mysteriöses Fernsehen ist das, so französisch wie universal unverständlich. Van der Weyden mit seinem weißen Einstein-Haarschopf sprudelt vor wildester Mimik, sein Gesicht ist ständig in Bewegung, in Körper fermentierte Skurrilität; Carpentier zitiert Zola, sein Kollege wirft ihm dafür womöglich, oder wenigstens verkehrt, Sartre zurück.

Man ist hier also geistig bei den Klassikern; währenddessen bleibt KindKind – im Original heißt er (wie die Serie selbst) „P’tit Coquin“, kleines Kind – stets naiver, frecher Beobachter. Die Welt um ihn herum ist natürlich des Wahnsinns, aber die Polizisten sind ja keine Spur besser, entrückt von jedem Pragmatismus.

Außer den Kindern hat sich nur die heranwachsende Aurélie (Lisa Hartmann) so etwas wie Normalität bewahrt. Sie singt und will an einem Wettbewerb teilnehmen, verliebt sich ein wenig in einen Jungen, das wird dann später der absurdeste Tod der Serie. Irgendwann steht sie auf der Bühne und singt sich die Sehnsucht nach woanders aus dem Leib; die Kamera sieht ihr zuerst frontal ins Gesicht, und man kann wirklich für einen Moment vergessen, was sie die ganze Zeit im Blick hat: Kleine Zelte, die immergleichen, fast kahl geschorenen Männerköpfe, das Dorf im Hintergrund. Das nimmt kein gutes Ende.

(Rochus Wolff)
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Es ist der blanke Irrsinn eines großen Künstlers, den Bruno Dumont da im Rahmen seiner vierteiligen Mini-Serie KindKind für den Fernsehsender ARTE abgefeuert hat. Noch nie hat es etwas Derartiges gegeben. Ganz sicher nicht. Man könnte sagen, dass dies die Antwort des Autorenkinos auf den amerikanischen Serienhype ist.

Wer mit den Filmen von Dumont vertraut ist, weiß um seine radikale Ästhetik, seine großen philosophischen und spirituellen Themen, die er in schonungslosen Betrachtungen von gewaltvollen oder sexuell-deformierten Situationen zu einem erschütterndem und doch jederzeit wahrhaftigem Gesamtbild vereint. In KindKind scheint zunächst alles anders. Es beginnt mit dem Fernsehformat, das Dumont, wie er selbst sagt, als Risiko und Herausforderung gerne angenommen hat und findet seinen überraschenden Ausdruck in einem surreal-aggressiven und berauschenden Humor.

Im Laufe der vier Folgen entfaltet der Franzose eine eigentlich klassische Kriminalhandlung. In den Hinterteilen von Kühen werden zerstückelte Menschen gefunden. Es geht um familiäre und beziehungstechnische Eifersüchteleien und die Suche nach dem Täter. Immer mehr Details kommen ans Licht. Allerdings ist die an sich ernste Handlung voller absurder Figuren, bizarrem Slapstick, der zum Teil kaum verrückter sein könnte und Übertreibungen bis zur Schmerzgrenze. Und die Details, die ans Licht kommen, werfen eher einen Schatten auf das gesamte Unterfangen als Lösungen anzubieten. Damit vollzieht Dumont das Kunststück einer Selbstparodie des Filmemachers Bruno Dumont und des Genres der Kriminalserie, die nicht nur seinen Kritikern sondern auch seinen Fans den Kopf zerbrechen wird.

Der titelgebende, kindliche Anti-Held dieser Geschichte in nordfranzösischen Käffern (eine Szenerie, die man aus vielen Filmen von Dumont, zum Beispiel Humanität, kennt und aus der der Regisseur auch stammt) zwischen Weltkriegs-Bunkern, dem kargen Meer, grünen Gräsern und Misthaufen ist ein kleiner Teufel im schlechtesten Sinne. Immer nur die nächste Dummheit im Kopf, die nächste Ungerechtigkeit initiierend, treibt er sich mit seinem kugelrunden und gewaltvollen Gesicht mit seiner Gang durch die banalen Straßen im Nichts. Doch irgendwo in ihm könnte eine Wahrheit schlagen, denn fast zärtlich führt er eine Liebesbeziehung zum Nachbarsmädchen und seine Beobachtungsgabe gewinnt an Bedeutung für den Kriminalfall.

Ein weiterer Protagonist findet sich in einer der außergewöhnlichsten Figuren, die man je vor einer Kamera gesehen hat (man mag mir meinen Enthusiasmus glauben): der ermittelnde Kapitän Van der Weyden. Er ist der Gipfel des Absurden in dieser Serie, ein Mann, der so schwer einzuschätzen ist, dass man ihn auch „Der Nebel“ nennt. Van der Weyden bekommt die meisten Lacher und ist auf seine Art die verlässlichste Figur der Serie. Wie alle Charaktere in KindKind ist auch er zunächst eine faszinierende Erscheinung, eine körperliche Präsenz voller Kraft und Zerbrechlichkeit. Dumont hat schon immer großartige Laiendarsteller gefunden und ein unheimliches Gefühl für Gesichter und Körper entfaltet und er macht keine Ausnahmen in seiner ersten TV-Arbeit. Auch das Unbequeme scheut er wie zuletzt in seinem Camille Claudel 1915 nicht und wieder besetzt er für die Rolle eines mental gestörten jungen Mannes einen tatsächlich behinderten Mann. Die Szenen, in denen er mit seiner von Jacques Rancière als Insektenforscher-Kamera bezeichneten Ästhetik den Körper und schließlich das Gesicht des Mannes filmt, bricht jegliche Konvention und ist gerade daher voller Potenzial. Denn auch inhaltlich stellt sich früher oder später die Frage: Wie begegnet man dem Fremden? Sei es das körperlich Fremde oder kulturell Fremde.

Voller körperlicher und mentaler Ticks stolpert derweil Van der Weyden scheinbar ohne jeglichen Plan durch die Welt und sitzt philosophierend neben seinem Ermittlungspartner, dem nicht minder bizarren Carpentier, im Auto, das dieser immer wieder mit seinen unausgegorenen Anfahrtstechniken halb zerlegt. Er wird ohne Vorwarnung in die Luft schießen, Kinder anschreien, ein Pferd reiten und sich immer wieder in der gleichen Geste auf das Auto lehnen. Zwar folgt die Handlung durchaus stringent dem Kriminalfall, aber mehr und mehr offenbart sich ein völlig anderes dramaturgisches System, in dem das Groteske des Daseins und die Banalität eines deformierten Bösen plötzlich einen merkwürdigen Tanz wagen, der auch aktuelle nationalistische Tendenzen in der französischen Politik und Fragen der Moral und unserer Auseinandersetzung mit Alterität berührt. Die Verschiebung von Proportionen betrifft die Gesichter, die Handlungen und schließlich das komplett Kino (ja, das ist Fernsehen, aber nein das ist Kino!).

Man bemerkt am Look der Serie mit ihren klinischen Bildern, Weitwinkel-Nahaufnahmen und einer formellen Beziehung zwischen Figuren und Landschaft, dass Dumont sich nicht völlig verändert hat. Ein gutes Beispiel findet sich bei einem Talentwettbewerb, bei dem die lokale Hoffnung Aurélie ihren bewusst und wiederholt nervigen Song zum Besten gibt und dabei von Dumont so ins Bild gesetzt wird, dass sie vor dem Hintergrund einiger verlassener Gebäude auf einer grünen Wiese singt. Immer wieder schneidet Dumont auch in die banalen Einstellungen von Misthäufen oder Wiesen. Waren diese Einstellungen in seinen bisherigen Filmen ein Ausdruck einer existentialistischen Leere, die man als Zuseher direkt erfahren hat, sind sie nun derart zwischengeschnitten, dass sie lächerlich wirken. Dennoch verlieren sie natürlich nicht ihren philosophischen Anstrich.

Und genau darum geht es auch inhaltlich, denn der Humor, den Dumont hier entfesselt, ist ein grausames Monster, eine zynisch-übersteigerte Weltverneinung lauert unter all der Absurdität. Es schmerzt fast. Dort, wo Dumont sonst reduziert hat und einen subtilen Minimalismus betrieben hat, ist er nun ein expressiver Surrealist, der immer noch eine Verfremdung hinzufügt und damit auch Fragen an den Humor an sich stellt. Denn wenn eine Szene, in der ein Mikrofon in der Kirche sich nicht richtig einstellen lässt, immer weiter und weiter geht, dann transformiert sich auch das eigene Lachen, es wird schmerzhaft und man mag kaum mehr hinsehen. Das bedeutet nicht, dass Kindkind nur aus dieser Art Humor besteht, ganz Im Gegenteil. Die Serie fährt ein riesiges Register ab, von Wortwitzen, zu Running-Gags, zu Slapstick und eben den Deformationen.

Bislang haben die Deformationen bei Dumont einem ein subtiles Gefühl gegeben, dass da etwas nicht stimmt. Man denke an die leeren Straßen in seinem Twentynine Palms oder die Szene in Humanität, in der der Protagonist ein Paar beim Sex beobachtet und Dumont ihm beim Drehen nur seine Hand gezeigt hatte und ihm nicht gesagt hat, für was er die Szene später verwenden würde. In KindKind ist Deformation an jeder Oberfläche sichtbar, überall spastische Zuckungen und völlig aus dem Rahmen fallendes Benehmen, das seinen absoluten Höhepunkt in einer abartigen Beerdigungssequenz mit lachenden Pfarrern, einer unpassenden Popsong-Performance und einem maskierten, mehr als potenziellen Mörder unter den Zuhörern findet, der von Van der Weyden jedoch nicht als verdächtig erkannt wird. Ein weiterer Höhepunkt findet sich in einer kurzen Tischdeckszene bei den Großeltern von Kindkind oder in einer Befragung eingewanderter Bauarbeiter durch Van der Weyden und Carpentier. Durch diese grotesken Übertreibungen führt Dumont eigentlich alles absurd: die Gesellschaft, die Handlung, Krimis an sich, sich selbst und das Leben.

In Zeiten, in denen wir in Deutschland mit dem Tatort Im Schmerz geboren durchaus sowas wie TV-Potenzial gespürt haben, zeigt Bruno Dumont, was mit dem Medium tatsächlich möglich ist (ein bewusst unfairer Vergleich). Es ist ein Schritt, als würde ein Maler in eine neue Phase treten und einen Aspekt seines Schaffens umarmen, der scheinbar schon immer da war, aber lediglich unter der Oberfläche brodelte. Am Ende ist dies auch der merkwürdigste Liebesbrief an eine Region, eine surrealistische Erkundung des Daseins und ein spöttisches Lachen über alle, die glauben, dass es Konventionen gibt, die man nicht brechen kann.
 

KindKind (TV-Serie, 2014)

Gemeinsam zu essen ist nicht so spannend. Wenn KindKind (es nennen ihn wirklich alle so) kann, nimmt er sein Mittagessen, eine Schale Suppe mit etwas Brot, nach draußen in eine etwas ruhigere Ecke des Bauernhofs, wo der Blick hauptsächlich auf den Misthaufen fällt und dann noch ein wenig auf die Felder und Bäume dahinter.

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