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Was tun, wenn sich auf einmal Begehren in ein wohl geordnetes Leben einschleicht? Emma Thompson brilliert als Richterin Fiona May in der gleichnamigen Verfilmung von Ian McEwans Roman „Kindeswohl“.

Kindeswohl (2018)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Szenen einer Ehe

Es ist ein wohl geordnetes Leben, dass Fiona May (Emma Thompson) führt. Sie ist Familienrichterin am High Court, arbeitet viel, entscheidet in ihren Fällen oftmals über Leben und Tod. Und zwar wortwörtlich: Gerade erst hat sie das Urteil gefällt, dass siamesische Zwillinge getrennt werden – obwohl das Überleben des einen Zwillings den Tod des anderen bedingt. Es ist der im Original titelgebende „Children’s Act“, nach dem sie entscheiden muss, und er sieht vor, dass das Wohl des Kindes über allem steht.

Diese Arbeit fordert ihren Tribut. Abends sitzt sie oft noch lange an ihren Akten in ihrer geschmackvoll eingerichteten Wohnung, schaut kaum hoch, wenn ihr Ehemann Jack (Stanley Tucci) nach Hause kommt. Doch mit einem Blick des Zuschauers auf Jack ist klar, dass er weit weniger zufrieden ist mit diesem Leben als Fiona, weit weniger erstarrt als sie. Und so eröffnet er ihr, dass er eine Affäre haben will. Aber weil er seine Frau liebe und sich auf keinen Fall trennen wolle, will er sie nicht anlügen und sagt es ihr vorher. Immerhin hätten sie seit 11 Monaten keinen Sex mehr gehabt. 

Nur in Fionas Gesicht zeichnet sich ab, wie sehr sie dieses Geständnis schockiert. Klischeehaft sei sein Verhalten, hält sie ihm entgegen – und weiß doch sofort, mit welcher jüngeren Kollegin er schlafen will. Sie tut, was man in solch einer Situation tun sollte: Fordert ihn auf, die Wohnung zu verlassen. Als Jack tatsächlich seine Koffer packt und geht, lässt sie die Schlösser auswechseln und ruft einen Anwalt an. Obwohl doch ihre Körpersprache schmerzhaft deutlich ihren Widerwillen erkennen lässt. 

Das Geständnis ihres Mannes wirft sie nicht aus der Bahn, bringt sie aber weiter ins Trudeln. Der nächste Fall wartet – eine weitere undenkbare Entscheidung, die sie treffen soll: Der 17-jährige Adam (Fionn Whitehead) und seine Eltern verweigern aus religiösen Gründen eine Bluttransfusion, die die Krebsbehandlung des Jungen dringend erfordert. Sie sind Zeugen Jehovas, die diese Art der Behandlung ablehnen. Während die Anwälte ihre Argumente vorbringen, Experten und die Eltern des Jungen gehört werden, beschließt Fiona, dass sie mit dem Jungen sprechen will. Sie sucht ihn im Krankenhaus auf, ein ungewöhnliches Verhalten für eine Richterin, aber Adam war überzeugt, sie würde kommen – egal, ob alle anderen sagen, dass Richter so etwas nicht tun. Es ist eine eigentümliche Begegnung zwischen Fiona und Adam, aber durch das Verlassen ihres Richterstuhls hat Fionas kontrollierte Existenz einen weiteren Riss erfahren – und die Frage ist, ob er derjenige ist, der alles einstürzen lässt.

Emma Thompson verkörpert als Richterin Fiona May Intelligenz und Scharfsinn, ihr Auftreten ist stets makellos. Dennoch ist Fiona May niemals unnahbar, vielmehr lässt Emma Thompson mit kleinen mimischen Regungen, mit Gesten und Betonungen hinter die Fassade blicken – und dort entdeckt man vor allem große Einsamkeit. Vielleicht ist sie entstanden durch die Fälle, in denen sie entscheiden muss. Vielleicht aber auch durch die Vorhersehbarkeit ihres Lebens. 

Klugerweise verweigert sich der Film hier eindeutigen Antworten, so dass er zu dem Porträt einer komplexen, erwachsenen Frau wird, die jeden Tag Entscheidungen über das Wohl von Kindern treffen muss. Dabei bleibt Richard Eyres Adaption des Romans von Ian McEwan ebenso kontrolliert wie das Leben von Fiona und Jack May. Mit viel Selbstverständlichkeit taucht er in das Leben der gutbürgerlichen Londoner ein und verzichtet auf dramatische Einbrüche, sondern stellt ernsthafte und schwierige Fragen nach Liebe, Selbstbild und Wahrheit. Es ist ein erwachsener Film, der sich an ein erwachsenes Publikum richtet – und dessen größer Trumpf Emma Thompson ist. 

Kindeswohl (2018)

Fiona Maye ist eine erfahrene Familienrichterin in London. Ausgerechnet als ihre Ehe mit Jack in eine tiefe Krise gerät, wird ihr ein eiliger Fall übertragen, bei dem es um Leben und Tod geht: Der 17-jährige Adam hat Leukämie, doch als Zeugen Jehovas lehnen er und seine Eltern eine rettende Bluttransfusion ab. Fiona muss entscheiden, ob das Krankenhaus den Minderjährigen gegen seinen Willen behandeln darf. Die Auseinandersetzung mit dem intelligenten Jungen führt Fiona zu einer Entscheidung, die auch ihr eigenes Leben verändern wird.

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