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In Barbara Otts sensationellem Debüt sieht man einen jungen Mann zwischen prekärer Arbeit und Vaterschaft und stellt dabei wesentliche Fragen zu Elternschaft, jenseits des bislang im Kino gezeigten Spektrums.

Kids Run (2020)

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Im Kampf mit sich selbst und um die Kinder

Was macht uns eigentlich zu Eltern? Was macht uns zu guten Eltern? Das deutsche Kino kennt Eltern vorwiegend in der bürgerlich-angeschmalzten Variante im eigenen Haus mit chaotischer Küche, aber liebender Zuwendung; nur selten mal à la Andreas Steinhöfel auch alleinerziehend und ruppig.

Barbara Otts Debüt-Langfilm Kids Run beschreibt Elternschaft in prekärem Patchwork, als wirklich permanente Verhandlung von Erwerbsarbeit und Fürsorge zwischen zahlreichen Parteien. Andi (Jannis Niewöhner) kommt als Tagelöhner auf dem Bau grade so durch den Tag, für die Miete reicht es leider nicht wirklich. Seine ersten Versuche als Boxer musste er nach einer Verletzung an den Nagel hängen, aber so ganz mag er sich nicht von der Idee trennen, in dem Sport doch noch groß rauszukommen.

Mit Isabel (Carol Schuler) hat er zwei Kinder, die schon in die Schule gehen, Nikki und Ronny (Eline Doenst und Guiseppe Bonvissuto, zwei talentierte junge Darsteller_innen, denen zuzuschauen ein Genuss ist); mit Sonja (Lena Tronina), die er immer noch zurückzugewinnen hofft, hat er außerdem die kleine Fiou (Sophia Demer). Sonja hat einen neuen Freund, der in seinem Job gut verdient; als Andi sich von dessen Geld über Sonja 5.000 Euro leiht, um seine Miete bezahlen zu können, er aber nicht sofort zurückzahlen kann, droht sie ihm damit, seinen Kontakt zu Fiou zu beenden.

Man sieht Andi mit den Kindern zum Schulbus laufen, mit Fiou auf dem Arm zur Übergabe an Sonja; immer droht er, seinen eigenen Bus zu verpassen, er ist eh immer zu spät, täglich droht ihm die Kündigung. Die Außenwelt, in der sich Kids Run abspielt, sind weite Flächen, Industriebrachen mit wild wachsendem Gestrüpp zwischen rostigen Metallstreben und bröckeligem Zement; man sieht Andi irgendwo an einem Binnenhafen einen Schrottberg abräumen, im Hintergrund stets grauer Himmel und kahle Bäume, entsättigte Farben.

Innen ist es eng; in Andis Badezimmer blüht der Schimmel an der Decke, bei Isabel und Sonja wirkt es freundlicher, bewohnter, aber auch hier ist alles eng, Sozialwohnungen, Plattenbauten, gekachelte Fluren. Aber Ott entwirft hier keine Anklage über Ungerechtigkeit und Abstieg in Deutschland, sie beobachtet so kühl wie zugewandt eine Alltagsrealität, in der die Jobs nicht nur schlecht bezahlt sind, sondern der Arbeitsplatz jeden Tag gefährdet, in der das soziale Netz eben nur die Freunde und Bekannten sind und manchmal nur die Hoffnung, dass die Frau am Imbiss die beiden Kinder noch einmal für ein paar Stunden im Lager auf ihren Vater warten lässt.

Dass diese Realität gleichwohl spezifische Rahmenbedingungen hat, wird immer wieder deutlich: In Sonjas flüssigem Wechsel vom Russischen ins Deutsche, von Andis Nachnamen Jovanovich, in der Hautfarbe von Fious Tagesmutter Archana (Lorna Ishema). Sie alle existieren eher am Rande der Gesellschaft und profitieren von ihrem Reichtum nur insofern, dass um sie herum nicht alles zusammenbricht; dass Mechanismen und Hilfsangebote noch funktionieren, auch wenn sie nur gelegentlich ihre Lebenswelt berühren, zum Beispiel wenn eine Lehrerin sich Zeit nimmt, mit Andi zu sprechen, als sie ein Messer in Nikkis Tasche findet.

Andi kämpft – und das sind die Momente, in denen Niewöhner zur Hochform aufläuft, der in fast jeder Szene zu sehen ist, sein Gesicht trägt die ganze Wucht von Kids Run – und zweifelt, verzweifelt daran, wie er mit seinen Kindern umgehen soll. Dass seine Bandbreite an Reaktionen schmal ist, dass er oft aggressiv und unwirsch reagiert, spürt er selbst; der Film zeigt all sein Zweifeln, seine Ausbrüche, seine Fluchtversuche und seine Verantwortung.

„Willst du, dass deine Tochter einen Loser als Vater hat?“ Mit dieser Frage konfrontiert Sonja ihn, und Andi will natürlich nicht der Loser sein, und auch deshalb glaubt er, nicht von der Chance lassen zu können, bei einem Amateurboxturnier als Sieger die 5.000 Euro zurückzugewinnen, die er sich geliehen hatte. Und muss doch genau fort von dem Gedanken, immer siegen zu können, zu müssen.

Niewöhner zeigt das alles reduziert, mit wenig Mimik, mit der Gestik seines Körpers, noch ganz der Boxer, dem die kleinen, zarten Gesten schwerfallen und der doch ganz selbstverständlich und zärtlich sein Kind auf dem Arm hält. Die Handkamera folgt ihm immerzu, nahe dran. Man möchte schreiend aus dem Kinositz hochfahren und sich weinend darin verkriechen ob dieses Vulkans, der da in der Hauptfigur brodelt, und glücklich schluchzen darüber, das auf einer Leinwand gezeigt zu bekommen – fern aller Sozialromantik, fern jedes Schmalzes.

Barbara Ott nimmt in Kids Run Motive wieder auf, die sie in ihrem Kurzfilm Sunny bereits thematisiert hatte; ihr Berlinale-Beitrag ist ein erstaunliches Debüt, und ein Triumph für  Jannis Niewöhner.

Kids Run (2020)

Andis Leben ist ein ewiger Kampf um seine Wohnung, seine drei Kinder und die Frau, die er immer noch liebt. Ihm bleiben nur noch zwei Wochen, um 5.000 € an sie zurückzuzahlen. Als er seinen Job verliert, sieht er nur noch eine Chance: Ein Amateur-Boxturnier.

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Meinungen

Miriam · 23.02.2020

Die Handlung war vielleicht nicht die außergewöhnlichste. Aber die Bilder sprachen für sich! Gerade die ruhigen Nahaufnahmen haben mich berührt. Teilweise wusste ich nicht was ich fühlen sollte. Wut, Mitleid, Freude?
Wer keinen happy happy Vorstadt Film sehen will, sondern harte, versteckte Realitäten, der sollte diesen Film sehen.

Markus · 22.02.2020

Spitzen Film!!

Sunny · 22.02.2020

Also heute auf der Premiere gesehen.... bin im besten Sinne verstört nach Hause gegangen... wobei mir der Film an manchen Stellen nicht schlüssig genug war... und ich mich oft gefragt habe, braucht es diese Brutalität... besonders die Boxkämpfe... die, in der emotionalen verwahrlosten (nicht-) Fürsorge der Kinder ... für manche Menschen ja... aber für mich war es oft nur verstörend... und am Ende hat der Mann die Frau wieder zu sich geholt... was für ein beklemmendes feministisches (für viele wahrscheinlich ostdeutsches/ osteuropäisches) Bild hier auf gezeigt wird... für mich fraglich, ob sozialkritische Auseinandersetzungen oder Bestätigung irgendwelcher vorhanden Klischees... sehr zwiespältig in meiner eigenen Auseinandersetzung, aber auf jeden Fall intensiv und mich sehr nachdenklich machend... wahrscheinlich erst im Nachgang dadurch ein gelungenes Filmerlebnis...

Windy · 02.03.2020

*Mögliche SPOILER*

Hallo Sunny,

ich habe das Ende des Films nicht wie Sie gedeutet. Im Endeffekt bleibt es für eine Interpretation selbstverständlich offen, dennoch muss man die gesamten Indizien des Films beachten. Das Verhalten der Frau durch den Film hindurch gekoppelt mit dem Verhalten des Hauptcharakters auch bis zum Schluss - kurz vor dem Treffen - deuten eher auf einem letzten Abschied als auf einem Zusammenkommen hin. Überdenken Sie nochmals den gesamten Film und sehen Sie sich das Ende erneut an. So können Sie vielleicht doch zu einem anderen Ergebnis kommen.

Mit besten Grüßen