Die kanadische Reise (2016)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Der Sohn von Jean

Mathieu (Pierre Deladonchamps) ist Mitte Dreißig, lebt in Paris und erfährt durch einen Anruf, dass sein Vater gestorben ist und der unbekannte Anrufer ihm nun ein Paket schicken will, das sein Vater ihm hinterlassen hat. Allerdings wusste Mathieu bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht, wer sein Vater ist – seine Mutter hat bis zu ihrem Tod jede Nachfrage mit dem Hinweis abgeblockt, er sei das Ergebnis einer einzigen Nacht. Dieser Anruf und diese Nachricht lassen Mathieu keine Ruhe, vielmehr lösen sie abermals die Sehnsucht aus, mehr über diesen unbekannten Mann und seine Herkunft zu erfahren. Also reist er kurzerhand zur Beerdigung seines Vaters nach Kanada – und muss dort von dem Anrufer, Jeans besten Freund Pierre (Gabriel Arcand), erfahren, dass abgesehen von Pierre niemand von seiner Existenz weiß. Daher bittet Pierre ihn resolut, seine Halbbrüder und Jeans Frau in ihrer Trauer nicht mit dieser Neuigkeit zu belasten. Mathieu willigt ein, aber er will sich die Chance, diesen Teil seiner Familie kennenzulernen, nicht entgehen lassen. Als Pierre bemerkt, wie ernst es Mathieu mit diesem Wunsch ist, nimmt er ihn ein wenig unter seine Fittiche.

Phillipe Liorets Die kanadische Reise erzählt angenehm unaufgeregt von der Suche eines Mannes nach sich selbst. Dabei fehlen typische Stationen und hochdramatische Wendepunkte, vielmehr vollzieht sich sogar eine der zentralen Erkenntnisse des Films durch Blicke in Rück- und Seitenspiegel. Vielmehr wird die Identitätssuche zu einer Auseinandersetzung mit Vaterfiguren. Mathieu hat es zeitlebens beschäftigt, dass er nicht weiß, wer sein Vater ist. Aber je mehr er über ihn erfährt, desto weniger Verbindungen erkennt er: Sein Vater verdiente als Schönheitschirurg viel Geld und verstarb vermutlich an einem Herzinfarkt, während er mit dem Boot auf einem See war. Aber seine Leiche wurde nie gefunden, deshalb wollen sich Mathieus Halbbrüder auf die Suche begeben – und aufgrund von Mathieus Drängen begleiten Pierre und er sie dabei. Hier entsteht zwischen dem ruhigen Pierre und Mathieu zunehmend Sympathie und Nähe, während er von seinen Halbbrüdern wenig angetan ist. Dadurch klingen auch Fragen nach Seelen- und Wahlverwandtschaften an, vor allem aber geht es um Verantwortung. Verantwortung für die Fehler und Entscheidungen. Verantwortung für das eigene Leben – und das seiner Nächsten. Mathieus Vater hat sich der Verantwortung damals entzogen. Er wusste, dass die französische Frau schwanger von ihm ist, aber er ist nicht nach Paris zurückgekehrt. Mathieu ist selbst Vater eines Sohnes, zwar lebt er von der Mutter des Kindes getrennt, aber er kümmert sich um seinen Sohn und es schmerzt ihn, dass er dessen Judo-Turnier verpasst. Aber er trägt diesen Schmerz – und vor allem die Verantwortung für diese Entscheidung, weil ihm die Frage, wer sein eigener Vater war, in diesem Moment dringender erscheint.

Nahezu den gesamten Film hindurch schwelt Jean im Hintergrund der Geschichte, obwohl er niemals lebend zu sehen ist. Vielmehr ist er in Geschichten präsent, in Bemerkungen von Pierre und seinen Kindern. Dadurch wird Mathieu zu einem Suchenden, der nicht nur seinen Vater entdecken will, sondern zunehmend auch die Geflechte der zwei Familien erforscht, an die er in Kanada geraten ist. Dabei gelingt es Regisseur und Mit-Drehbuchautor Lioret in seiner Adaption des Romans Si ce livre pouvait me rapprocher de toi von Jean-Paul Dubois, nach und nach aus den flüchtigen Begegnungen und kurzen Szenen vollentwickelte Charaktere entstehen zu lassen. Man sieht und spürt, welche Konflikte innerhalb und zwischen den Familien verlaufen. Dadurch entstehen die Ereignisse langsam und aus sich heraus, vieles muss der Zuschauer für sich selbst schlussfolgern. Aber gerade damit durchzieht Die kanadische Reise eine ruhige Spannung, die einen an die Geschichte bindet, so dass man Ende des Films noch gerne erfahren würde, wie es mit all diesen Menschen weitergeht.
 

Die kanadische Reise (2016)

Mathieu (Pierre Deladonchamps) ist Mitte Dreißig, lebt in Paris und erfährt durch einen Anruf, dass sein Vater gestorben ist und der unbekannte Anrufer ihm nun ein Paket schicken will, das sein Vater ihm hinterlassen hat. Allerdings wusste Mathieu bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht, wer sein Vater ist – seine Mutter hat bis zu ihrem Tod jede Nachfrage mit dem Hinweis abgeblockt, er sei das Ergebnis einer einzigen Nacht.

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