Just the Wind (2012)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

An einem ganz normalen Tag

Aufwachen, aufstehen, die Kinder und den kranken Vater versorgen, sich auf den Weg zur Arbeit machen — so beginnt für die Roma Mari (Katalin Toldi) ein ganz gewöhnlicher Tag. Was sie nicht weiß und auch niemand sonst — es wird ihr letzter sein und auch der letzte Tag ihres Vaters (Györgi Toldi) und ihrer Tochter Anna (Gyöngyi Lendvai). Denn die drei werden Opfer einer Gewalttat, wie sie in Ungarn in den letzten Jahren häufiger vorkommen — die Übergriffe auf Sinti und Roma sind in dem Land längst zum Problem geworden, wie man im Vorspann lesen kann. Und daran wird sich unter der gegenwärtigen Regierung vermutlich kaum etwas bessern.

Bence Fliegauf, dessen Film Womb vor kurzem in den deutschen Kinos zu sehen war (unter anderem mit Eva Green in der Hauptrolle), ist neben Bela Tarr der wohl derzeit bekannteste ungarische Regisseur. Sichtlich bewegt von der rapide zunehmenden Fremdenfeindlichkeit in seinem Land und dem deutlichen Rechtsruck ist er für diesen Film nach Ungarn zurückgekehrt und zwingt seine Zuschauer förmlich zum Hinschauen, weil schon viel zu viel weggeblickt wird, wenn sich Gewalt gegen Menschen wie Mari und ihre Familie richtet.

Zwar erzählt Just the Wind die Geschichte eines Tages, doch in Wahrheit verdichtet und kondensiert der Film einen langen Zeitraum, eine Ewigkeit, ohne dass man dies dramaturgisch allzu schnell als Fiktion entlarven kann. Stets ist die Kamera extrem nah dran an den Figuren, heftet sich an ihre Fersen, zeigt sie in intimsten Situation und bewahrt ihnen doch einen Rest an Würde, den sie in ihrer Realität längst nicht mehr haben. Immer wieder verschwinden bei Just the Wind die Hintergründe in der Unschärfe, so als wolle Fliegauf weniger dem Publikum als vielmehr seinen Figuren diese letzte und endgültige und ausweglose Härte des Lebens nicht mehr länger zumuten. Man kann dies böswillig als Feigheit definieren, doch das trifft den Kern von Fliegaufs Film in keiner Weise. In Wirklichkeit erweist sich die Strategie des Regisseurs als letzter Schutzraum für Mari und ihre Familie, die sie aber dennoch nicht vor ihrem Ende bewahren kann.

Dabei geht Fliegauf nicht den einfachen Weg der eindeutigen Schuldzuweisung in seiner Geschichte über Außenseiter und den Umgang der Gesellschaft mit ihnen. Denn das Wegschauen ist kein Problem, das in der ungarischen Gesellschaft (und offen gesagt auch in jeder anderen) nur in einer Ecke verortet wäre. Auch Mari schaut weg, als zwei Jungs in der Umkleidekabine eine Mitschülerin bedrängen und sich anschicken, sie zu vergewaltigen. Sie verlässt den Raum ohne ein Wort zu sagen oder Hilfe zu holen. Vielleicht ist sie ja einfach froh, zumindest in diesem Fall einmal nicht das Opfer zu sein.

Just the Wind ist kein Film, der Spaß macht. Dazu ist er zu düster, zu dreckig und auch zu hektisch. Immer wieder zeigt Fliegauf das Elend, in dem die Roma leben, ihre alltägliche Angst, die Verachtung, die ihnen entgegenschlägt, die Ausweglosigkeit ihrer Lage. Doch es gibt auch zärtliche Szenen, sie sind zwar selten, doch gerade deshalb umso kostbarer. Hoffnung indes transportieren sie nicht, die Prognose des Filmes ist niederschmetternd und fordert dazu auf, genau hinzuschauen auf die Entwicklung, die Ungarn in der nächsten Zeit nehmen wird.

Vielleicht hat ja die Berlinale nach diesem Film, der einen so unhaglich und beklommen zurücklässt, nach den bisherigen Favoriten Petzold, Meier und Schmid nun einen weiteren Geheimtipp dazugewonnen — Just the Wind wäre wohl, was das politische Profil des Festivals angeht, eine logische, eine nachvollziehbare Wahl.

(Festivalkritik Berlinale 2012 von Joachim Kurz)

Just the Wind (2012)

Aufwachen, aufstehen, die Kinder und den kranken Vater versorgen, sich auf den Weg zur Arbeit machen — so beginnt für die Roma Mari (Katalin Toldi) ein ganz gewöhnlicher Tag. Was sie nicht weiß und auch niemand sonst — es wird ihr letzter sein und auch der letzte Tag ihres Vaters (Györgi Toldi) und ihrer Tochter Anna (Gyöngyi Lendvai). Denn die drei werden Opfer einer Gewalttat, wie sie in Ungarn in den letzten Jahren häufiger vorkommen — die Übergriffe auf Sinti und Roma sind in dem Land längst zum Problem geworden, wie man im Vorspann lesen kann. Und daran wird sich unter der gegenwärtigen Regierung vermutlich kaum etwas bessern.

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Meinungen

Sibylle 4 · 23.09.2013

...Verrückte, umgeben von ausgesprochen angesehenen und durchaus erfahrenen Leuten. Was mich am meisten schockiert, ist die Tatsache, dass anscheinend keiner von ihnen merkt, dass diese
Bürger verrückt sind. In politischen und religiösen Bewegungen und Gruppen, die sich als inspiriert und revolutionär verstehen, gibt es jede Menge Platz für Wahnsinnige. Würden diese einzeln im Rahmen eines ganz normalen Lebens beschrieben, wäre für die Gesellschaft sofort sichtbar, dass sie verrückt sind. So aber sagt man im Kontext von Religion und Politik "Was für Charismatiker und Mitstreiter für die Sache" ENTSETZLICH

Sibylle 3 · 23.09.2013

...Die Täter aus der Mitte der Gesellschaft mit einer unerklärlichen Eigenschaft, eine heimliche, übergroße und in einem ungeahnten Ausmaß vorhandene Freude an der eigenen Fähigkeit, Menschen zu beherrschen, skrupellos und verachtend zu behandeln...

Sibylle 2 · 23.09.2013

...Nach vielen Jahren erscheint einem ein Erlebnis, das schmerzlich oder gar beängstigend war, manchmal bloß noch absurd. Man muss gewaltsam in Erinnerung rufen, dass Streit oder Ereignisse, die man später humorvoll oder parodistisch heraufbeschwört, in der Vergangenheit auch schon mal zu Gewalttätigkeiten führten. Ich frage mich ungläubig, ob es wirklich möglich ist, einen Menschen oder eine Gruppe in einem langsamen, stetig kränkenden Prozess zu isolieren und zu ermorden. Man ist versucht, sich zu fragen, was der eigentliche Motor für die Täter ist, der Tod, Hohn und Spott nach sich zieht...

Sibylle · 23.09.2013

Wer ehrlich ist, ist dumm, wer andersartig ist, ist bedrohlich und muss beobachtet, ja verfolgt werden – ein weitverbreiteter gesellschaftlicher Zynismus und aus der Geschichte hinlänglich bekannt. Um Leid darzustellen, ziehe ich ( Mitgefühl sollte nicht verzärtelt oder betulich väterlich daherkommen) die Tragikkomödie (Beispiel DAS LEBEN IST SCHÖN) dem Drama vor. Das Gedächtnis macht aus Erinnerungen gern Komödien...

Brigitte Kölbel · 06.08.2013

Diesen Film habe ich noch nicht gesehen, viel darüber gelesen. Seit Jahren beschäftigt mich der Umgang der scheinbar demokratischen Länder mit Minderheiten, wozu die Zigeuner zählen. In der Slowakei habe ich gesehen, wie diese - in Ghettos abgeschoben - dahinvegetieren. Es sind MENSCHEN, wie Du und ich. Alle Dummköpfe, deshalb gefährlich, sollten gejagt, verfolgt, geächtet und aller Rechte beraubt werden. Wer kann sich seine Herkunft per Geburt aussuchen ? Ich schaue mir diesen Film an, obwohl ich weiß, daß ich vor Bedrückung, Entsetzen und Hilflosigkeit kaum Luft bekommen werde. Schon jetzt laufen meine Tränen davon.