Jonathan (2016)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Schöner Sterben im Schwarzwald

Der deutsche Film hat ein Problem mit der Sinnlichkeit: Mit der Sinnlichkeit des Seins wie des Liebens. Und erst recht mit der Sinnlichkeit des Sterbens. Sobald in deutschen Redaktions- und Produktionsstuben Wörter wie Poetik, Gefühlskino oder Schönheit – zweifellos einige der schwierigsten Vokabeln innerhalb der filmischen Grammatik eines jeden Regisseurs – fallen, winken bereits in Sekundenbruchteilen die ersten Geldgeber ab. Ein deutscher Film, bewusst sinnlich inszeniert und mit dem Mut zum Verweilen in einzelnen Bildern? Will keiner, sieht keiner – produziert keiner. Piotr J. Lewandowski, dessen Film Jonathan nun in eben jene deutschen Kinos kommt, kann ein Lied davon singen.
Lange musste er für sein Filmprojekt um einen sterbenskranken Vater (grandios: André M. Hennicke) und dessen verluderte Beziehung zu seinem Bauernsohn (zu eindimensional: Jannis Niewöhner) kämpfen. Das Ganze vor dem Hintergrund einer homosexuellen Lebenslüge im schönsten Schwarzwaldidyll: der früheren Beziehung des Familienoberhaupts zu dessen Lebens- wie Liebesgefährten Burghardt (Thomas Sarbacher). Dass dabei nun kein indiskutabler Fernsehaufguss a la „Schwarzwaldklinik 2.0“ fürs angegraute BR- oder ZDF-Stammpublikum herausgekommen ist, verdankt Jonathan in erster Linie dem starken Willen des Regisseurs, Liebesleben wie Liebesleiden in eben gerade keine blassen 08/15-Einstellungen auflösen zu wollen: Hier darf die zart-poetische Kameraführung von Jeremy Rouse tatsächlich lange auf einem Schmetterlingsrücken oder im Insektengewühl verbleiben, ohne gleich in zuckerwattige Rosamunde-Pilcher-Ästhetik abzudriften.

Das muss man mögen, aber – wie im Falle Lewandowskis – auch erst einmal können! Selbiges gilt für die ersten, wahrhaftig bezaubernden Einstellungen in seinem Langfilmdebüt: So deutsch und gleichzeitig so sinnlich sehen Kinobilder selten aus in diesem Lande. Werner Herzogs Frühwerk (z.B. Jeder für sich und Gott gegen alle oder Herz aus Glas) lässt milde grüßen und parallel kann sich der ein oder andere Zuschauer sehr gut die blassen Gesichter mancher Redakteure vorstellen: Hier passiert doch nichts, wir müssen schneller zum ersten Plotpoint kommen – und überhaupt das Geld für jede dieser non-narrativen Millisekunden …

Doch genau dieses satte Waldesgrün würde man gerne noch viel öfter auf deutschen Kinoleinwänden sehen. Nicht weniger jene durchaus einfallsreichen Kamerapositionen im Dickicht des Blättermeers: Sogar manch kunstvolles Spiel im Tiefenschärfebereich ist hier problemlos möglich. Kurzum: Der Geist deutscher Mumblecore-Experimente ist fern, genauso wie mittlerweile satt gesehene Berliner Schule-Befindlichkeiten. Keine Nüchternheit, nirgends: Gott (und Schöpfung) sei Dank, hört man da den – wie Herzog – bekennenden Katholiken Lewandowski durch die Regieklappe sprechen. In Schönheit und Rätselhaftigkeit zu schwelgen ist nämlich kein Verbrechen, erst recht nicht im deutschen Gegenwartskino, wie es in jüngster Zeit auch schon Godehard Giese (Die Geschichte vom Astronauten) oder Mara Eibl-Eibesfeldt (Im Spinnwebhaus) eindrucksvoll bewiesen hatten.

Und auch angeblich besonders deutsche (Film-)Tugenden im Sinne von Purismus und Konzentration sind hier ebenfalls nur ansatzweise zu spüren. Denn Lewandowskis aufrechter Blick auf sein Figurenkarussell, der manche Nullstellen im Jungbauer-trifft-Pflegerin-Plot kaschiert, ist ganz aufs Fühlen ausgerichtet: Alte (Vater – Ex-Lover) und neue (Sohn – neue Flamme) Romanzen bestimmen den zwar zu erwartenden, aber dennoch hoch emotionalen Fortlauf der Geschichte. Leben, Lieben und Abschiednehmen wurden in der Tat schon länger nicht mehr so einprägsam wie leidenschaftlich in intime, nicht vor Dreck oder Altersfalten zurückschreckende Filmbilder umgesetzt. So gerät auch der queere Sub-Plot erfreulicherweise immer weiter ins Hintertreffen, denn Jonathan „soll eine universelle Liebesgeschichte sein“, wie der Regisseur im Rahmen der Berlinale-Screenings seinen eigenen Zugang zum Stoff mehrfach untermauerte.

Gerade André M. Hennicke, der mit dem Landbauern-Dasein zuvor sichtlich fremdelt, kehrt in Lewandowskis berührendem, niemals rührigen, Blick auf die Unausweichlichkeit des Todes zu alter Klasse zurück: Er beweist mit dieser emotionsgeladenen Performance nachdrücklich, dass er – mitsamt seiner markanten Physis – weiterhin zu den besten deutschsprachigen Schauspielern zählt. Schön traurig, eigentlich hoffnungslos ist die Lage. Jeremy Rouse fängt dieses Martyrium gleich mehrfach in einer Reihe ungewöhnlicher, wirklich nahegehender Krankenhaus-Einstellungen ein. Zugleich untergraben Piotr J. Lewandowskis vielleicht banal daherkommende, aber stets zum Setting passende Drehbuchzeilen („Wenn du sterben willst, musst du’s leben zulassen“ oder „Das Leben wartet nicht auf einen, das habe ich gelernt“) immer wieder das Unausweichliche: zum Vorteil des Films.

Wenn die Wiesbadener Film- und Medienbewertungsstelle (FBW) eines Tages das Prädikat „besonders sinnlich“ verleihen sollte, stünde Jonathan schon jetzt als erster Sieger fest: schluchz. Denn Poesie ist hier kein Fremdwort, sondern eine Waffe.

Jonathan (2016)

Der deutsche Film hat ein Problem mit der Sinnlichkeit: Mit der Sinnlichkeit des Seins wie des Liebens. Und erst recht mit der Sinnlichkeit des Sterbens. Sobald in deutschen Redaktions- und Produktionsstuben Wörter wie Poetik, Gefühlskino oder Schönheit – zweifellos einige der schwierigsten Vokabeln innerhalb der filmischen Grammatik eines jeden Regisseurs – fallen, winken bereits in Sekundenbruchteilen die ersten Geldgeber ab.
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