Jeder stirbt für sich allein

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Vom Widerstand der kleinen Leute

Schon an der Anfangssequenz von Jeder stirbt für sich allein lässt sich festmachen, was in den folgenden mehr als 100 Minuten schiefgehen wird: Ein Soldat läuft durch einen Wald, er hat Angst, befindet sich offensichtlich auf der Flucht, begegnet Feinden und wird erschossen. Es ist der Tod von Hans Quangel, der in der gleichnamigen Romanvorlage von Hans Fallada lediglich durch einen Brief bekannt gemacht wird, den seine Eltern Anna (Emma Thompson) und Otto (Brendan Gleeson) erhalten.
Aber weder am Anfang noch im weiteren Verlauf des Films vertraut Regisseur Vincent Perez in seiner Adaption auf Zuschauer, die über das Offensichtliche und Demonstrative hinaussehen können. Stattdessen zeigt er alles, erklärt jede Wendung und Entwicklung und erzählt alles aus. Daher gibt es Szenen, in denen noch mittels eines Satzes betont wird, dass sich die jüdische Nachbarin in der Wohnung versteckt, nachdem man gerade eine Tür gehört hat. Wenn der saufende Hinterhofbewohner etwas belauscht, hält die Kamera besonders lang auf ihn, damit auch jeder bemerkt, dass er gerade gesehen hat, wie sich die jüdische Nachbarin in der Wohnung des Richters versteckt, der ebenfalls in dem Mehrfamilienhaus im Berlin des Jahres 1941 wohnt. Hinzu kommen plakative Einstellungen von Händen auf Treppengeländern und viel Licht, das durch Fenster einfällt. Und während Falladas Roman von den Überlebens- und Widerstandsversuchen der kleinen Leute erzählt, konzentriert sich die Verfilmung auf die Handlung um Anna und Otto Quangel.

Nachdem ihr Sohn in Frankreich gefallen ist und sie die Nachricht seines Todes erhalten haben, wirft Anna ihrem Ehemann vor, es sei seine Schuld, „sein“ Hitler hätte ihren Sohn auf dem Gewissen. An diesem Vorwurf trägt Hans schwer, außerdem glaubt er – ebenso wie Anna –, dass sie nun nichts mehr hätten, wofür es sich zu leben lohnt. Also entsinnt Otto eine Möglichkeit, Widerstand zu leisten. Der Werksmeister, der nie in die Partei eingetreten ist und sich immer aus allem herausgehalten hat, beginnt mit dem Schreiben von Postkarten, auf denen er eine freie Presse fordert und Hitler einen Lügner nennt. Diese Karten versteckt er in Bürogebäuden und hofft darauf, dass viele Menschen sie lesen. Die Karten landen aber auch bei der Polizei, so dass schon bald Kommissar Escherich (Daniel Brühl) mit den Ermittlungen beginnt und auf Druck des SS-Standartenführers Prall (Mikael Persbrandt) Ergebnisse vorzeigen muss. Dies ist die einzige Form des Widerstands, die in der Verfilmung zu sehen ist – von der kommunistischen Zelle des Romans ist nicht mehr im Film geblieben, auch wurden sämtliche Handlungsstränge um Hans‘ Freundin sowie die Postbotin gestrichen, so dass es abgesehen von Anna keine zentrale Frauenfigur in den Film geschafft hat. Aber dafür hätte sich der Film auch von dem gängigen Nazi-Film-Muster lösen müssen, nach dem es einen Hauptwiderstandskämpfer, einen mitlaufenden Ermittler, der immer noch an gewisse Grundsätze glaubt, und einen superbösen SS-Schergen gibt. Dadurch wirken manche Sequenzen auch hilflos: Dass sich Anna beispielsweise aus der NS-Frauenschaft zurückzieht, lässt sich lediglich als weiterer überflüssiger Hinweis darauf verstehen, wie omnipräsent die Nazis 1941 in Berlin waren – im Buch war es hingegen Teil der Vorbereitung der gesamten Aktion. Aber durch solche Elemente wird die allgegenwärtige Angst auch nicht spürbar, zumal das System des Spitzeltums ausschließlich an dem stets mit strähnigen Haaren zu sehenden Säufer auf die ohnehin schon plakative Figur reduziert wird.

Weder an Vielschichtigkeit noch Atmosphäre ist diesem Film gelegen. Stattdessen irren die ausschließlich Englisch mit deutschem Akzent sprechenden Schauspieler durch ein Berlin, das dank glattgebügelter Nazi-Flaggen und düster hereinblickenden Verfolgern überdeutlich zeitlich verankert ist und so offensichtlich um Authentizität bemüht ist, dass es umso künstlicher wirkt. Daher ist bei diesem Film die deutsche Synchronfassung die bessere Wahl. Aber in der eigentlich guten Besetzung bekommt keiner Rollen, aus denen er etwas herausholen könnte. Brandan Gleeson schaut stoisch in die Kamera, Kummer wird lediglich durch ein Schlucken angedeutet. Daniel Brühls Escherich soll eine ambivalente Figur sein, aber seine behauptete moralische Überlegenheit wird allzu leicht erschüttert und bringt ihn zu einer im Film völlig unmotivierten Gewalttat. Emma Thompson muss vor allem trauernd und ernst in die Kamera gucken, Mikael Persbrandt abermals den großen, bulligen, brutalen SS-Typ geben, der in einer derart überinszenierten Demütigungsszene vollends zu einer Karikatur wird. Zu keinem Moment lässt sich die Wandlung des Ehepaars von braven Kleinbürgern zu Widerstandskämpfern tatsächlich nachempfinden, vielmehr gehen sie umher und sagen Dialogzeilen auf, die nicht glaubhaft sind.

Es stellt sich durchaus die Frage, warum bei der Verfilmung eines erfolgreichen Unterhaltungsromans die wenigen Ambivalenzen der Buchvorlage gänzlich getilgt werden – und warum man ein Buch adaptiert, nur um einen Film zu drehen, den man in dieser Art gefühlt schon hundertfach gesehen hat. Denn es ist ja gerade die Stärke des Romans, dass das Haus in der Jablonskistraße zu einer kleineren Ausgabe des Dritten Reichs wird, in dem das System der Willkür und des Misstrauens, des Verrats und kleinen Heldentums zu sehen ist.

Jeder stirbt für sich allein

Schon an der Anfangssequenz von „Jeder stirbt für sich allein“ lässt sich festmachen, was in den folgenden mehr als 100 Minuten schiefgehen wird: Ein Soldat läuft durch einen Wald, er hat Angst, befindet sich offensichtlich auf der Flucht, begegnet Feinden und wird erschossen. Es ist der Tod von Hans Quangel, der in der gleichnamigen Romanvorlage von Hans Fallada lediglich durch einen Brief bekannt gemacht wird, den seine Eltern Anna (Emma Thompson) und Otto (Brendan Gleeson) erhalten.
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Meinungen

Marion Goldmund-Lux · 22.11.2016

Wenn man ihn nun endlich mal sehen könnte, wäre es ja schon sehr gut. Aber nicht mal in Zittau, wo viele der Kleindarsteller (so auch mein Mann) wohnen, wird der Film im Kino gespielt. Ich würde ihn (den Film) so gern mal sehen, zumal ich auch Emma Thompson für so intelligent halte, nicht in einem dummen Film mitzuspielen. Aber das ist hier einfach nicht möglich.

Steven Thomsen · 17.11.2016

Vielen Dank für diese ganz wunderbare, sehr kenntnisreiche Kritik! Da ich an anderer Stelle schon eine negative Rezension vernommen habe, überzeugt mich Frau Hartls Einlassungen endgültig davon, dass der Film misslungen ist. Ob ich ihn mir dennoch anschaue - gut möglich.