Jauja (2014)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Die fiktionalisierten Pforten der Wahrnehmung

Einsame Männer driften durch atemberaubende Landschaften, die sich im Nichts des Horizonts verlieren. Sie faszinieren uns mit ihrer Körperlichkeit, mit ihrem Denken und immerzu erschließen wir was gerade vor sich geht in den zugleich naturalistischen und deformierten Welten von Lisandro Alonso, der immer wieder jenes Detail oder jene Handlung betont, die wir gar nicht auf dem Schirm hatten. Jauja gliedert sich nahtlos in das wundervolle und wundersame Gesamtwerk des Argentiniers ein und markiert dennoch eine erhebliche Weiterentwicklung, die man aber gleichzeitig als Geständnis auffassen kann.

Der Film spielt 1882 an der Patagonischen Küste. Vor uns das Meer und hinter uns eine endlose und gefährliche Wüste, die gerade im historischen Kampf mit den Ureinwohnern erobert wurde. Einige verstreute Seelen, Soldaten und Entdecker tummeln sich noch in diesem Nichts. Sie pflegen ihre mentalen Wunden, frönen ihrer sexuellen Bedürfnisse und lassen sich von der Leere füllen. Einer dieser Männer ist Kapitän Dinesen, ein dänischer Ingenieur, der den Aufbau jener europäisch gegliederten Städtestrukturen in Argentinien mit einleiten wird, die man bis heute in Südamerika findet. Dinesen ist ein Existentialist, ein besorgter und ernster Mann, wortkarg wie alle Protagonisten im Universum von Alonso. Seine Tochter Ingeborg ist auch bei ihm. Sie wird mit einem jungen Soldaten eines Nachts verschwinden, in die erbarmungslose Wüste. Dinesen wird seine Soldatenuniform anziehen und ihnen nachreiten. Zu großen Teilen beobachtet der Film die Suche des Mannes nach seiner Tochter. Es geht um Sehnsucht und Natur jenseits jeglicher Zivilisation. Es geht um jene Räume, die wir noch zum Träumen und Trauern haben.

Dabei arbeitete Alonso mit dem argentinischen Poeten Fabián Casas zusammen am Drehbuch. Dies markiert eine große Veränderung für Alonso, dessen Filme sonst praktisch ohne jegliche Form von klassischen Dialogen ausgekommen sind. In Jauja wird deutlich mehr gesprochen. Insbesondere in den Anfangssequenzen und bei einer unvergesslichen Begegnung gegen Ende des Films. Insgesamt findet sich auch mehr Drama im Film als in den fast jeglicher Dramaturgie beraubten Beobachtungen wie La libertad oder Los muertos. Das bedeutet aber weder, dass diese früheren Werke dokumentarisch wären, noch dass sie nicht narrativ sind. In Jauja allerdings arbeitet Alonso — vielleicht ähnlich und doch völlig anders als in seinem Fantasma — mit der Fiktion. Er hinterfragt sie, er spielt mit ihr und er macht schließlich einen Film über die Fiktionalisierung. Als einer der Aushängeschilder der sogenannten Nonfiction-Bewegung gibt Alonso so einen sehr trockenen Kommentar auf die Tatsache, dass alle Filme Fiktionen sind. Dort liegt auch das Geständnis, welches eigentlich kein Geständnis, sondern eine Klärung ist: Wer glaubte, dass Filme wie La libertad ethnographische Studien sind, der irrt sich. Alonso war immer mehr mit dem Kino beschäftigt als mit der Welt, bei ihm ist das dokumentarische Ereignis ein Kino-Ereignis und deshalb ein fiktionales Staunen, eine Hingabe an die Kraft von Bild und Ton. Wenn ein Baum gefällt wird, ist das genauso Kino, wie wenn ein Kalb geschlachtet wird, wie wenn ein Mann mit einer Frau schläft oder wenn er durch die trockenen Gräser Patagoniens reitet.

Schon das 1,33:1 Format mit abgerundeten Rändern deutet auf die Bewusstmachung der Fiktionalisierung hin. Zusammen mit Kaurismäki-Kameramann Timo Salminen erzählt Alonso mit jedem Bild in Jauja von einer fotografischen Qualität. Die Figuren scheinen sich so zu positionieren, dass sich ein besonders schönes Bild ergibt. Ihre Blickrichtungen und Bewegungen verlaufen entlang unsichtbarer Achsen und der goldene Schnitt ist ihr Lebenselixier. Zudem bricht Alonso im Laufe seiner Reise mit seiner eigenen Fiktion. Diese wird auf mehreren Ebenen ablaufen, ganz so wie in einem Traumfilm von Luis Buñuel.

Diese traumhaften Qualitäten bewirken ein fast meditatives Gefühl beim Schauen. Dabei geht es um die Schönheit und Langsamkeit von Bewegungen und die überraschenden und doch kontemplativen Begegnungen von Dinesen in der Wüste. Es wird zu fast absurd-komischen, gewaltvollen Auseinandersetzungen kommen, merkwürdige Tiere, die vielleicht mehr Relevanz haben als man zunächst glaubt, bevölkern die Landschaft, die Einsamkeit und der Zweifel des Mannes sind jederzeit spürbar. In den selbstreflexiven und doch hypnotischen Magien, die sich da entfalten, fühlt man sich mehr an die absurden, kontemplativen Momente eines Albert Serra (insbesondere seines Story of my Death) erinnert als an die vorhergegangenen Filme von Alonso. Denn ständig wird das Gefühl gebrochen und wieder aufgebaut, ständig hinterfragt sich der Film und existiert doch weiter. So wird man irgendwann der Tonspur, den Gesichtern und nicht mal dem nächtlichen Sternenhimmel trauen können. Bei beiden Filmemachern entsteht so eine hypnotische Studie von Merkwürdigkeiten, die sich selbst nicht zu ernst nimmt, aber es im Kern unbedingt ist.

Viggo Mortensen ist vielleicht der angestrengteste Schauspieler, der je in einem Film von Alonso zu sehen war. Das liegt zum einen daran, dass er im Gegensatz zu den Hauptdarstellern in Los muertos oder Liverpool tatsächlich Szenen bekommt, in denen er spielen muss und zum anderen daran, dass seine Figur nicht zwangsläufig der Grund unseres mystischen Verlangens ist sondern selbst dem Unbeschreibbaren, Unfassbaren ausgesetzt wird. So betrachtet Dinesen die Deformationen und bizarren Objekte im Film mit genau der gleichen Faszination wie der Zuseher. Alonso schafft es immer wieder Momente zu finden, in denen man nicht versteht, aber schauen muss. Etwas Fremdes ist dort und wir können nicht anders, als zu schauen. Hier liegt vielleicht auch wieder eine Parallele zu Fantasma, denn dort wanderte der Protagonist durch ein merkwürdiges und verlassenes Kino, um einer Vorführung von Los muertos (indem er selbst spielte) beizuwohnen. Als würde Mortensen seiner eigenen Welt nicht trauen, muss er durch sie hindurch bis er selbst beginnt sich aufzulösen. Der Starschauspieler ist natürlich insofern ein Glücksfall für Alonso, da er so ein Publikum erreichen kann, das ihm normalerweise verschlossen bleibt. Mortensen war sehr involviert in die Gestaltung des Films und komponierte sogar die Musik, die an einer Stelle auftaucht, an der der Atem von manchem Zuseher, ob der Vollkommenheit der filmischen Fiktion fast gefriert.

Die hypnotisierende Odyssee durch die Wüste wird in Jauja mit einem großartigen Auge für Raum und Zeit gefilmt. Es gibt sehr wenige Regisseure heute, die derart gekonnt mit dem Raum außerhalb des Bildes oder im Bildhintergrund umgehen. Alonso ist der Jean Renoir des modernen Kinos. Bei ihm öffnet sich der Raum nie, um das Drama zu betonen sondern der Raum existiert vor dem Drama. Er hat sich schon geöffnet und alleine deswegen kann sich das Drama entfalten. Aus dieser Konstellation vermag Alonso sowohl Spannung, als auch Humor, als auch Drama, als auch Einsamkeit zu erzählen.

Am Ende befindet man sich auf einem poetischen Trip durch das Innen und Außen von Natur und Mensch, Vergangenheit und Gegenwart, Fiktion und Leben. Jauja ist ein verlorenes Paradies. Die Pforte zu diesem Paradies liegt vielleicht in unserer Wahrnehmung, vielleicht in der Frage welche Perspektive wie auf unsere Umwelt einnehmen können und vielleicht auch in der Unschuld des Kinos. In diesem Sinne macht sich Jauja selbst schuldig, hält sich selbst einen ironischen Spiegel vor die Augen, um von einer Unschuld zu erzählen, als hätte Alonso Film entdeckt.
 

Jauja (2014)

Einsame Männer driften durch atemberaubende Landschaften, die sich im Nichts des Horizonts verlieren. Sie faszinieren uns mit ihrer Körperlichkeit, mit ihrem Denken und immerzu erschließen wir was gerade vor sich geht in den zugleich naturalistischen und deformierten Welten von Lisandro Alonso, der immer wieder jenes Detail oder jene Handlung betont, die wir gar nicht auf dem Schirm hatten.

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