It's a Free World

Eine Filmkritik von Silvy Pommerenke

Donnerstag, 9. Juni 2011, ARTE, 20:15 Uhr

Was früher die Sklaverei war, wird heute euphemistisch Personalvermittlung von Fremdarbeitern genannt. Hierzulande gibt es das natürlich nicht mehr, Europa ist zivilisiert geworden. Slums, Hungersnöte und existenzielle Überlebenskämpfe sind Probleme anderer Kontinente — so der vielfache Irrglaube. Ken Loach hat sich eines brisanten Themas angenommen, das dem Zuschauer auf unangenehme Art vorführt, dass selbst vor unserer Haustür die schrecklichste Ausbeutung von Menschen stattfindet.
Die selbstbewusste Angie (Kierston Wareing) arbeitet für eine Zeitarbeitsagentur, die ausländische Aushilfskräfte dem englischen Arbeitsmarkt zuführt. Auf den ersten Blick ist Angie eine Gewinnerin, hat sie doch letztendlich die Macht darüber, ob jemand einen Job bekommt, oder nicht. Die hoffnungsvollen Augen der Facharbeiter sind auf die hübsche Anzugsträgerin gerichtet, auch wenn ihnen – jenseits ihrer jeweiligen Ausbildung – nur kurzfristig eine Zeitarbeit in der Fabrik angeboten wird. Skrupel hat die alleinerziehende Mutter dabei nicht, Mitleid kann und will sie sich nicht leisten. Als ihr dann selbst gekündigt wird, versteht sie die Welt nicht mehr. Hier ist eine der vielen Situationen des Filmes, in der die Protagonistin ein Chance zur Umkehr und zur Einsicht hätte, oder eine Zäsur in ihrem Leben ziehen könnte. Der Zuschauer erwartet es förmlich, aber nichts dergleichen geschieht. Im Gegenteil, denn sie gründet kurzerhand ihre eigene Arbeitsvermittlung. Unter noch unwürdigeren Umständen und halbseideneren Arbeitsverträgen wird die menschliche Arbeitskraft zu einer Billigware, frei nach dem Motto: „Wenn du den Job zu dem Lohn nicht willst, dann gibt es tausend andere, die ihn machen!“ Ihre Geschäftspartnerin Rose (Juliet Ellis) äußert zwar immer wieder Bedenken gegenüber den Methoden der Agentur, aber Angie bleibt ihrer Linie treu. Sie will endlich raus aus ihrem finanziellen und sozialen Desaster. Wenn es sein muss, auch auf Kosten anderer.

So, wie sie mit den billigen Arbeitskräften umgeht, so lebt sie auch ihre Beziehungen. Sei es die zu ihrem 11-jährigen Sohn, der eigentlich bei seinen Großeltern aufwächst und nur ab und zu eine Nacht bei seiner Mutter verbringt. Mit Junkfood, kalorienhaltigen Süßgetränken und stundenlangem Fernsehprogramm versucht Angie ihre Liebe zu dem Kind auszudrücken. Auch die Beziehungen zu Männern sind sehr funktional ausgerichtet: Als partielles Sexobjekt eignen sie sich bestens und wenn mehr daraus zu werden droht — wie im Falle des polnischen Gastarbeiters Karol (Leslaw Zurek) — dann flüchtet sie eher, als dass sie der Liebe eine Chance gibt. Auch wenn sie vereinzelt für ein paar Menschen Mitgefühl aufbringt und sogar liebenswerte Züge aufweist, so zeigt sie sich gegenüber den meisten unerbittlich und ist nur auf eigenen Profit bedacht. Dabei steht sich Angie eigentlich die ganze Zeit selbst im Weg und verbaut sich somit ihre Zukunft und – was fast noch schlimmer ist – zieht andere in ihre seltsame Lebensphilosophie mit hinein…

Mit der Wahl der 30-jährigen Kierston Wareing als Hauptdarstellerin ist Ken Loach ein ganz großer Coup gelungen. Sie spielt die Attribute der Figur Angie vollkommen überzeugend, drückt deren Härte und Unerbittlichkeit genau so authentisch aus, wie die – zwar nur selten durchscheinende – Sensibilität und Liebenswürdigkeit. Das führt dazu, dass sie nicht als ‚Monster‘ wahrgenommen wird, sondern als Opfer der Verhältnisse. Ein Glücksgriff also. Mit Sicherheit auch für Kierston Wareing, denn bislang blieb ihr der filmische Durchbruch versagt. Mit It’s a Free World und einer doppelten Nominierung bei den British Independent Film Awards sollte dies nun gelingen.

Ken Loach, der sich bereits mit Filmen wie Land and Freedom, The Wind That Shakes The Barley oder Just a Kiss einen Namen machte, hat diesen Film sehr klug inszeniert, denn der Zuschauer wartet und hofft die ganze Zeit auf eine Läuterung der Protagonistin. Chancen und Möglichkeiten hat sie derer viele, aber sie ergreift sie nicht oder nur ansatzweise. Diese emotionale Erwartung des Publikums wird bis zum Schluss aufrecht gehalten, hinterlässt aber immer wieder Enttäuschungen. Allerdings macht genau das diesen sozialkritischen Film, der mehr als nur Kapitalismuskritik beinhaltet, so sehenswert und authentisch. Würde It’s a Free World mit einem Happy-End schließen, verlöre er an Glaubwürdigkeit. Es muss wehtun beim Hinsehen, damit die Botschaft deutlicher wird: Korrektes Verhalten und Mitgefühl sind wichtiger denn je und unsere Marktwirtschaft ist nicht der Weisheit letzter Schluss.

It's a Free World

Was früher die Sklaverei war, wird heute euphemistisch Personalvermittlung von Fremdarbeitern genannt. Hierzulande gibt es das natürlich nicht mehr, Europa ist zivilisiert geworden.
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Meinungen

Bree · 19.01.2009

Der Film nimmt den Zuschauer mit, er ist dabei und fühlt das Geschehen.
Ken Loach scheint eine ganze Menge vom Filme machen zu verstehen.

Wenn Kunst gute Kunst ist, wenn sie beeindruckt, dann ist dieser Film gute Kunst.