In the Last Days of the City

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Bagdad ist ein Gefühl

Einiges in Tamer El Saids bemerkenswertem Langfilmdebüt In den letzten Tagen der Stadt erinnert in seiner Grundkonzeption an einen anderen großen, leider schon etwas vergessenen Revolutionsfilm: Vor der Revolution (Prima della rivoluzione) aus dem Jahr 1964. Dieser großartige Film aus der Frühphase von Bernardo Bertoluccis mannigfaltigem Œuvre markierte zugleich den Durchbruch für den damals noch blutjungen italienischen Star-Regisseur.
Sowohl die offen poetische Form als auch seine deutlich autobiografische Geste transportierten darin anhand des Schicksals eines jungen Mannes kongenial unzählige Realitätspartikel, in denen sich das Italien der Nachkriegszeit zu diesem Zeitpunkt – auf der Kinoleinwand wie in der Realität – neu konstituierte. Auf klare Botschaften wurde in Bertoluccis Film – analog zu Tamer El Saids vielschichtiger Bestandsaufnahme seiner eigenen ägyptischen Heimat im Revolutionsprozess – weitestgehend verzichtet.

Dementsprechend lose in ihrer Form werden in beiden Filmen mehrere scheinbar parallel stattfindende Geschichten um Ausbrüche und Selbstmordideen, Liebhaberinnen und Passanten, Freunde und Arbeitsversuche, Protest und Gewaltauswüchse in einer politisch wirren Nation voller Wandlungsprozesse gezeigt. Auch das berühmte Talleyrand-Zitat („Wer die Jahre vor der Revolution nicht erlebt hat, kennt nicht die Süße des Lebens“), das Bertoluccis Freiheit atmender Revolutionsstudie vorangestellt wurde, hätte der 1972 geborene ägyptische Filmemacher durchaus ebenso für sein reichlich melancholisch angelegtes Stadt-Portrait von Kairo, Beirut und Bagdad übernehmen können.

Vieles in diesem zwischen Menschen, Sprachen und Regionen hin und her springenden Film bleibt unerklärt, wird weitestgehend dialogarm lediglich angedeutet. Warum sucht der zentrale junge Filmemacher, ein gebrochenes Alter Ego des echten Regisseurs, eigentlich ständig nach einer Wohnung, wenn er nicht gerade seine kranke Mutter besucht? Warum verbringt er die meiste Zeit bei Alltagsphilosophen im Taxi oder draußen auf der Straße vor Schaufensterpuppen, anstatt an seinem aktuellen Filmprojekt weiterzuarbeiten? Und wieso taucht er eigentlich plötzlich im Revolutionsgetümmel am inzwischen weltberühmten Tahrir-Platz auf, wo er doch gerade erst mit seinen drei besten Freunden zusammen war und daneben eine schöne Frau getroffen hat?

Khalid Abdalla (Verräter wie wir / Der Drachenläufer) verkörpert diesen mäandernden Sinnsucher ungemein stark. Irgendwo zwischen stark dokumentarisch kadrierten Trümmerlandschaften und nächtlichen Männergesprächen, die unterstützt durch Bassem Fayads mitunter delirierende Kamerakunst durchaus ins Surreale abdriften, sucht dieser stille Beobachter seinen ganz persönlichen Weg in all dem politischen Chaos: Gut zwei Jahre vor dem Ausbruch des so genannten „Arabischen Frühlings“, als Husni Mubaraks Militärapparat auf Kairos Straßen noch überaus streng gegen Demonstranten („Nieder mit Mubarak!“) durchgriff.

In den letzten Tagen der Stadt ist ein zwar leise daherkommendes, aber umso dichter montiertes Film-über-das-Filmemachen-Kunstwerk, das gerade von seinen unzähligen Bruchstellen im Geiste Chris Markers lebt und darin durchaus einen herben Zauber entfaltet. Das verlangt naturgemäß nach einem geradezu kontemplativen Zuschauer, der sich auf diesen offen gehaltenen Reigen aus Gesichtern, Stimmen, Trümmern und Tönen (großartig in der minimalistischen Musikgestaltung: Amélie Legrand und Victor Moïse) vollends einlassen kann.

Trotzdem ist Tamer El Saids fragmentarisch ausgefeilte – und mittlerweile vielfach preisgekrönte – „Sinfonie der Großstadt“-Variante ein künstlerisch enorm wichtiges Lebenszeichen aus einem Land, das auch Jahre nach der Revolution noch bei weitem nicht zur inneren Ruhe gefunden hat. Im Resultat ist In den letzten Tagen der Stadt ein ebenso wichtiges wie vielschichtiges Filmessay, das im Gedächtnis haften bleibt und Jean-Luc Godards Diktum nicht „politische Filme zu machen, sondern Filme politisch zu machen“ absolut ernst nimmt. Oder in der Sprache des Films formuliert: „Wo gehen wir hin?“ – „Es ist eine große Überraschung. (…) Wir alle lieben die Stadt Kairo: Sie ist eine Sirene.“ So poetisch-politisch geht es selten zu im internationalen Gegenwartskino.

In the Last Days of the City

Einiges in Tamer El Saids bemerkenswertem Langfilmdebüt „In den letzten Tagen der Stadt“ erinnert in seiner Grundkonzeption an einen anderen großen, leider schon etwas vergessenen Revolutionsfilm: Vor der Revolution (Prima della rivoluzione) aus dem Jahr 1964.
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