Hundstage (2001)

Eine Filmkritik von Wolfgang Nierlin

Der nackte Mensch

Die ärgste Hitze des Sommers lastet über der Stadt. An den Rändern Wiens, wo Reihenhaussiedlungen, Einkaufsmärkte, Baustellen, Parkplätze und breite Ausfallstraßen ein geographisches Nirgendwo und eine reale Unbehaustheit erzeugen, verbündet sich die Struktur der urbanen Landschaft im Kampf gegen den Menschen mit dem unbarmherzigen Klima. Schattenlose Flächen und weite Felder aus Beton reflektieren das gleißende Sonnenlicht und verschränken sich zu einer merkwürdigen Szenerie der Abgeschiedenheit, zu einer unwirklichen Konzentration im Abseits. Geplante Offenheit heißt hier Einschluss; vorgebliche Bewegungsfreiheit bedeutet Stillstand. Der vormals natürliche Lebensraum ist — im Sinne von Identität – ortlos geworden, die Peripherie bildet gleich in mehrfacher Hinsicht Übergänge und Unfertiges ab.

Man ahnt, dass die Menschen, die hier leben, unglücklich sein müssen; dass sie ihr anonymes, einsames, beziehungsloses Dasein, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, zwar erleiden, aber nicht verstehen. Triebgesteuert und instinktgeleitet wie Tiere sind sie Sklaven ihrer Begierden, Ängste und Aggressionen, die sich vorwiegend gegen Frauen richten und damit jenes komplexe Abhängigkeitsverhältnis sichtbar machen, das Schutzbedürfnis und Wehrlosigkeit, Dominanz und Unterwerfung, Bewunderung und Abscheu untrennbar aufeinander bezieht. In Ulrich Seidls umstrittenem Film Hundstage, der bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, sind deshalb Nacktheit und Entblößung die zentralen bildlichen Metaphern. Und diese konfrontieren den Zuschauer mit einer Intimität, die gewöhnlich und bizarr, abgründig und peinlich ist und so die voyeuristische Lust des Kinogängers einer harten Belastungsprobe aussetzt. Der Blick durchs Schlüsselloch ist ziemlich unappetitlich und sein Regisseur ist sich sicher, dass der Betrachter dabei sich selbst sieht.

„Es wird menschliches Leben gezeigt in einer Wahrhaftigkeit, die mitunter verstörend ist“, sagt Seidl. Das Leben selbst und die Menschen, die es führen: Das ist ein junger, hitzköpfiger Macho, der mit gewalttätiger Eifersucht über seine zerbrechlich wirkende Freundin wacht; ein geschiedenes Ehepaar, das den Unfalltod seines Kindes nicht verwunden hat und immer noch zusammen wohnt; ein schwitzender Alarmanlagenvertreter auf der Spur von Autovandalen; eine in ihrer verbalen Direktheit nervtötende Anhalterin, die fast unausgesetzt spricht; schließlich eine ältere Lehrerin, die eine Nacht voller Exzesse und Demütigungen mit zwei Typen aus dem Zuhältermilieu erleidet, während ein spießiger, Hunde liebender Rentner seine Haushälterin zum Striptease bittet. Immer geht es um gestörte Kommunikation und ein unerfülltes Liebesverlangen; um das, was einer dem anderen antut auf der Suche nach ein bisschen Glück und den Resten einer verloren gegangenen Würde.

Seidls Film ist nichts für Realitätsflüchtige, weil er das Kino seines Illusionsgehalts entkleidet und auf den harten Kern einer ungeschönten Wirklichkeitsdarstellung reduziert. Er erzählt nicht in der Möglichkeitsform, sondern zeigt beharrlich und schonungslos einen Ist-Zustand, der Fiktion und Realität fast ununterscheidbar macht, was durch das Spiel der Laiendarsteller und die Authentizität der Schauplätze nachhaltig unterstrichen wird. Das macht die Begegnung mit Hundstage zu einem intensiven, manchmal unangenehmen Erlebnis. Die einseitige Konzentration auf das Perverse und Hässliche befördert beim Zuschauer aber auch Abwehr und Distanz und erschwert damit jene Einfühlung, in der er sein eigenes Bild gespiegelt finden könnte.
 

Hundstage (2001)

Die ärgste Hitze des Sommers lastet über der Stadt. An den Rändern Wiens, wo Reihenhaussiedlungen, Einkaufsmärkte, Baustellen, Parkplätze und breite Ausfallstraßen ein geographisches Nirgendwo und eine reale Unbehaustheit erzeugen, verbündet sich die Struktur der urbanen Landschaft im Kampf gegen den Menschen mit dem unbarmherzigen Klima.

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