Helium

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Die Leere hinter den Bildern

Jedes Genre gibt irgendwann seine Helden auf. Der Cowboy im Western begann sicher als strahlender Held, doch spätestens mit John Fords Der Schwarze Falke war der Heiligenschein reichlich abgenutzt. Filme wie Clint Eastwoods Erbarmungslos waren nur noch Sargnägel für einen längst zu Grabe getragenen Archetypen. Auch der Gangsterfilm führte die Figur des Kriminellen durch Aufstieg und Fall: Aus dem Geächteten der Pre-Code- und Code-Ära wurde im New Hollywood ein mutiger Rebell gegen das System. Die Exzesse von Figuren wie Tony Montana spiegelten die materialistischen 80er Jahre wieder. Heute haben wir mit Mafiaboss Tony Soprano aus der Kultserie The Sopranos fast schon Mitleid, so gebrochen und innerlich zerrissen scheint er. Der Debütfilm des niederländischen Regisseurs Eché Janga Helium stellt den nächsten logischen Schritt dar: Gangster Frans Weeling scheint sich aufzulösen, er besitzt kaum noch eine Präsenz oder Schwere. So wie Helium, das bekanntermaßen leichter als Luft zum Himmel strebt, hält auch ihn nur noch wenig auf dieser Erde zu halten.
Frans (der niederländische Fernseh-Star Hans Dagelet) ist 52 Jahre alt und lebt in Amsterdam. Seit vielen Jahren führt er ein international agierendes Verbrechersyndikat. Aber genau wie sein Körper mit dem Alter an Kraft verliert, wird auch seine Organisation zunehmend verletzlicher. Nach einer Auseinandersetzung mit einer nigerianischer Gang muss er der Metropole für eine Weile fernbleiben. Selbst die Heimat ist nicht mehr sicher. Gemeinsam mit seinen Untergebenen John (Manou Kersting) und Elias (Poal Cairo) zieht er sich auf die Nordseeinsel Texel zurück. Die ist im Winter jedoch kein fröhliches Ferienparadies, sondern ein leerer, fast gespenstischer Ort, beherrscht von Nebel und Dunkelheit. Das einzige Anzeichen dafür, dass es auf der Welt noch andere Menschen gibt, ist ein ferner Leuchtturm, der mit seinem Lichtstrahl in regelmäßigen Abständen den Nebel durchschneidet; nicht erst seit Virgina Woolf ist sein Leuchtfeuer ein Symbol für die menschliche Sinnsuche.

Nicht Handlung, sondern Bilder sind die zentrale Triebkraft von Helium. Kameramann Tibor Dingelstad filmt wundervolle Panorama-Aufnahmen, in denen die Figuren fast von der Szenerie verschluckt werden. Die Bilder sind oft unbewegt und statisch, die wenigen langsamen Kamerafahrten könnten aus einem Tarkowski-Film stammen. Die Felder, Strände und spartanisch möblierten Wohnungen verlieren schnell ihren Charakter als reale Räume und werden zu Seelenlandschaften. So wie in den Spätwestern die Wüsten so leer und karg wie ihre Helden waren, so spiegeln die ärmlichen Landstriche hier die Isolation und Verlorenheit von Frans wieder. Oder mit den Worten von Rustin Cohle aus True Detective: „This place is like somebody’s memory of a town, and the memory’s fading.“

Hans Dagelet spielt den ergrauenden Verbrecher, als trüge dieser das Gewicht der Welt auf seinen Schultern. Anders als beim Titanen Atlas ist dieses Schicksal jedoch keine göttliche Strafe, sondern in erster Linie selbstverschuldet: Um an die Spitze der Amsterdamer Unterwelt aufzusteigen, hat er große Teile seiner Menschlichkeit aufgegeben. Getrieben vom Wille zur Macht hat Frans sich selber ein Gefängnis aus Stärke geschaffen; wie ein Körper, der sich nicht mehr bewegen kann, weil er nur noch aus Muskeln besteht. Die tiefste Verbindung findet er nicht mit seinen „Freunden“, nicht mit seiner Familie oder seiner Ex-Frau. Alle Figuren im Film sind definiert durch ihre Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren. Sie sprechen, aber sie sagen nichts.

Nur ein einziges Mal ist bei Frans so etwas wie Geistesverwandtschaft zu spüren: Als er beim Zoobesuch mit seinem Neffen einen Tiger beobachtet und wenig später einen alternden Silberrücken. Die Blicke vom vermenschlichten Tier und kreatürlichem Menschen begegnen sich. „Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt“, schreibt Rilke über seinen Panther, könnte aber auch Frans Weeling meinen. Sein Schicksal ist bitter und ironisch: Gerade der Gangster, sonst in Film und Literatur ganz Freudsches Es, immer um seinen Vorteil und die direkte Bedürfnisbefriedigung bedacht (der Gangster nimmt sich, was er will) wird bei Eché Janga ein fast körperloses, gänzlich vergeistigtes Wesen. Seine Nähe zur vermeintlichen „Mutter Natur“ und seine Position an der Spitze der Nahrungskette, führen ihm jetzt schmerzlich vor Augen, wie gleichgültig das Universum gegenüber all dem ist, was lebt. Alle Stärke kann das Unvermeidbare nicht aufhalten. Frans kann den Gedanken an seine eigene Sterblichkeit nur schwer ertragen: In einer kurzen Szene wird ihm das scheinbar immer lauter werdende Ticken einer Wanduhr so lästig, dass er kurzerhand die Batterien entfernt. Doch seine innere Uhr läuft weiter, unerbittlich.

Nach einigen Tagen ist das Problem mit den Nigerianern (und auch die Nigerianer selbst) aus der Welt geschafft. Doch sofort übernimmt eine neue Gang deren Position – noch stärker und brutaler. Verbündete sterben, alles gerät außer Kontrolle. Die Welt der Verbrecher, vielleicht der Menschen an sich, ist ein ewiger Kampf ums Dasein. Feinde werden im Film jedoch kaum gezeigt. In einer Sequenz stapfen der Gangsterboss und zwei Kumpane durch ein gewaltiges Feld. Gegen den Horizont zeichnen sich Silhouetten von Menschen ab. Die Bedrohung wird nie greifbar; mehr scheint es, als würde Frans gegen ein kosmisches Prinzip kämpfen, gegen die Ordnung der Welt. Eché Janga lässt von allen Genre-Elementen und Erzählstrukturen nur Schemen und Schimären zurück.

Helium ist kein langer Film, er wirkt aber über seine Spieldauer hinaus noch lange nach. Menschen sind auf der Suche nach Bedeutung, nach Transzendenz und einer göttlichen Bestätigung. Der Film verweigert sie seinem Publikum und zwingt fast wie im Existenzialismus dazu, die Bedeutungslosigkeit von Allem und und die Allgegenwärtigkeit des Nichts zu akzeptieren.. Das Kino ist ein Sehnsuchtsort, die Leinwand unser Tor zur Flucht in fremde Welten. Helium ist ein Sturz ins Leere hinter den Bildern.

Helium

Jedes Genre gibt irgendwann seine Helden auf. Der Cowboy im Western begann sicher als strahlender Held, doch spätestens mit John Fords „Der Schwarze Falke“ war der Heiligenschein reichlich abgenutzt. Filme wie Clint Eastwoods „Erbarmungslos“ waren nur noch Sargnägel für einen längst zu Grabe getragenen Archetypen. Auch der Gangsterfilm führte die Figur des Kriminellen durch Aufstieg und Fall: Aus dem Geächteten der Pre-Code- und Code-Ära wurde im New Hollywood ein mutiger Rebell gegen das System.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen