Heimat - Gesamtedition

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Heimat? Ein Rei(t)z-Wort!

„Seit ich Filme mache ist mir aufgefallen, dass Schwarzweißszenen eine emotionale Wirkung aufweisen, die schwer zu erklären ist. Es ist, als könnte man tiefer in die Seele der Personen schauen.“ (Edgar Reitz)
Alles begann für Edgar Reitz 2007 mit der Anfrage eines italienischen Kinobetreibers, der zur Neueröffnung seines Lichtspieltheaters wochenlang Heimat – präziser gesagt den ersten Teil der Hunsrücker Mega-Spielfilm-Saga Heimat – Eine deutsche Chronik, immerhin auch schon 887 Minuten Spieldauer (!) – zeigen wollte. Also den Auftakt des international erfolgreichen Mammut-Kinofilm-Projektes aus der Schmiede des Münchner Autorenfilmers, den er 1984 bei der Uraufführung innerhalb des Biennale-Programms in Venedig erstmals gesehen hatte. Dabei gab es für Reitz lediglich ein kleines Problem: Nach ersten Materialchecks im eigenen Haus-Archiv und spätestens nach Durchsicht sämtlicher Verleihkopien der so genannten Heimat-1-Kino-Fassung war klar: Dieses filmische Ausrufezeichen innerhalb der deutschen Filmgeschichte schien für das heutige Kino, insbesondere für jene Filmstätten, die unverdrossen weiterhin auf analoge Filmfassungen setzen, unwiederbringlich verloren zu sein. Denn nach zuvor teilweise jahrelang gespielten 35mm-Kopien, die mehrfach um den Globus gereist waren, im Verbund mit Transporten und Umspulvorgängen, war nicht nur jedem Cineasten rasch klar: Einzig die Erinnerung bleibt an jene ursprüngliche Kinofassung in sieben Einheiten. Doch im Grunde nur für die, die 1984 tatsächlich bei der Premiere auf der Mostra dabei waren.

Natürlich gab es anschließende TV-Ausstrahlungen der Familienchronik in der ARD mit insgesamt elf Teilen und – heute unvorstellbar – gut zehn Millionen Zuschauern pro Folge vor den Röhrenfernsehern. Später folgten ebenfalls zahlreiche DVD-Editionen in wenig befriedigender Qualität, da sie allesamt von den alten analogen MAZ-Bändern der Sendeanstalten gezogen worden waren. Zuletzt erschien beispielsweise die Reclam-Ausgabe in Zusammenarbeit mit StudioCanal / Arthaus in diesem Jahr anlässlich der ersten Biografie zum Regisseur Edgar Reitz (Thomas Koebner: Edgar Reitz. Chronist deutscher Sehnsucht. Eine Biographie). Doch die ursprüngliche Biennale-Version für die venezianische Festivalleinwand schien lange Zeit ein Fall für die moderne Mythenhalde des Films zu sein.

Und so initiierte Reitz vor 5 Jahren, als er mitten in den anstrengenden Dreharbeiten zu Die Andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht steckte und ausgehend von den vielen Kino- wie Fan-Anfragen, ein prestigeträchtiges Restaurierungsprojekt, sprichwörtlich eine Art „Auf der Suche nach der verlorenen (Film-)Zeit“ der Heimat 1. Mit vollem Erfolg: Dank großer Finanzspritzen von ARRI, dem Land Rheinland-Pfalz sowie der Kulturstiftung des Bundes konnte die lange verschwundene Kinofassung der ersten Heimat (offiziell etwas umständlich Heimat – Eine deutsche Chronik in 7 Kapiteln für das Kino benannt) endlich wiederhergestellt werden. Sie erscheint nun nach einzelnen Aufführungen (z.B. beim Fünf Seen Filmfestival) und einer Fernsehausstrahlung bei ARTE erstmals als Teil der umfangreichen Heimat – Gesamtedition: Das sind mittlerweile, Stand 2015, 60 Stunden Filmkunst auf 20 DVDs. Parallel dazu erscheint jene restaurierte Kinoversion auch separat auf Blu-ray oder DVD (ebenfalls bei StudioCanal / Arthaus).

Dass sich der jahrelange Aufwand vollends gelohnt hat, wird besonders bei den Übergängen von Schwarzweiß zu Farbe deutlich: Noch nie glühte z.B. das Eisen in der Schmiede der Simons zu Beginn des ersten Kapitels, wenn Paul (Michael Lesch) geistergleich aus dem Ersten Weltkrieg ins fiktive Hunsrück-Fleckchen Schabbach zurückkehrt, so formvollendet, so wunderschön. Derselbe Effekt stellt sich schnell ein, als Eduard (Rüdiger Weigang) der schnoddrigen Berliner Prostituierten Lucie (unvergesslich: Karin Rasenack) am Wegrand verführerisch leuchtende Kirschbäume präsentiert: Quasi ein ganzer filmischer Liebesakt ohne Kuss. Eingefangen von Reitz‘ Stammkameramann Gernot Roll, dessen großes Verdienst es auch beim jetzigen Remastering war, gerade keinen neuen Look zu kreieren, wie es zum Beispiel Xaver Scharzenberger 2006 bei der Restaurierung von Fassbinders Jahrhundertwerk Berlin Alexanderplatz eigenwillig durchgezogen hatte — nicht gerade zur Freude vieler Fassbinderianer.

Überhaupt wird die grandiose Symbiose zwischen dem Einsatz handwerklicher Filmkunst via Kamera (durch Roll) und dem elegisch-ausufernden Ton der Narration (durch Reitz) auch beim wiederholten Sehen mehr als nur spürbar: Hier hatten sich zwei ganz Große der deutschen Filmszene nach der gemeinsamen Fingerübung Stunde Null (1977) erneut verbündet und zusammen bewiesen, dass sich der Neue Deutsche Film visuell eben nicht so leicht vom US-amerikanischen Mainstream-Kino der 1980er infiltrieren ließ. Reitz über Roll: „Gernot ist einer, der das Schöne liebt. Oft verzaubert er Drehorte, Szenen, indem er künstliche Nebel aufsteigen lässt oder indem er Filmdosen mit brennendem Spiritus im Gelände vergräbt und damit Flimmereffekte in der Luft herstellt“. Nachzulesen ist das im ebenfalls gerade erschienenen und sehr liebevoll gestalteten Buch zur Restaurierung jenes ersten Mega-Films aus dem Heimat-Kosmos (Edgar Reitz: Heimat – Eine deutsche Chronik. Die Kinofassung. Das Jahrhundert-Epos in Texten und Bildern, Schüren Verlag).

Darüber hinaus glänzt die neue Heimat-Gesamtedition durch stundenlanges Bonus-Material. Mit dabei ist u.a. Reitz‘ Dokumentarfilm-Klassiker Geschichten aus den Hunsrückdörfern (1981), einer sozusagen durchgängig gedrehten Langzeitrecherche zur Sprache, Musik, Kultur und manch mentaler Eigenart der Hunsrücker, die in den ersten Einstellungen bereits auf den bisherigen Abschluss der Reitz’schen Ultra-Chronik (Die Andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht) verweist: „Der junge Hunsrücker Emil Hahn ist im vorigen Jahrhundert, wie viele seiner Hunsrücker, nach Brasilien ausgewandert.“ Mit extrem viel Lokalkolorit (keine Panik: Untertitel sind vorhanden!), einer Natur-Bildsprache, die in wogenden Feldern und rauschenden Bergbächen an das filmische Frühwerk von Werner Herzog erinnert und aufrichtiger, niemals larmoyanter Erzählweise eines Reporters, den der Regisseur selbst mimt, gebührt dieser essayistischen Vorstufe zum Heimat-Zyklus ein Ehrenplatz im Oeuvre von Edgar Reitz. Wenn beispielsweise Lamberti, der Dorfwirt, über das Dreikaiserbild im Gasthof Schmidt sinniert… Alfred Michels in weiten Schlaghosen stolz vom Schieferabbau in der Region berichtet… Oder die Walters, eine echte Hunsrücker Familie, den Neubau ihres Hauses, Inventar inklusive, vorstellen… Dann hat der Kinoepiker Edgar Reitz bereits wieder gewonnen: Der Zuschauer kann einfach nicht mehr aufhören, ihm zuzuhören – und denkt dabei insgeheim vielleicht auch ein wenig an Hermann (Henry Arnold), den Helden aus Die Zweite Heimat – Chronik einer Jugend, wenn der am Ende der Heimat 2 konstatiert: „Ich möchte das Warten lernen.“ Auch wenn es manchmal verdammt schwer ist. Denn im Unterbewusstsein des Zuschauers ist Paul (Michael Lesch) derweil schon längst wieder aus der Heimat geflohen… und der Zyklus beginnt aufs Neue: Auf ewig.

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„Seit ich Filme mache ist mir aufgefallen, dass Schwarzweißszenen eine emotionale Wirkung aufweisen, die schwer zu erklären ist. Es ist, als könnte man tiefer in die Seele der Personen schauen.“ (Edgar Reitz)
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