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Der Vater ist vor Jahren ohne Erklärung verschwunden. Der Sohn schließt sich weg. Das Leben der Mutter liegt in Trümmern. Dann bemerkt sie, dass ihr Sohn in einem Internetchat aktiv ist – und meldet sich ebenfalls an… „Goliath96“ ist eine klug erzähltes Mutter-Sohn-Drama der anderen Art.

Goliath96 (2018)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Hinter geschlossener Tür

Aus David wird Goliath: „Goliath96“ ist sein Nickname im Chat eines Drachenbauerforums; doch bis wir als Zuschauer – und Davids Mutter Kristin – ihn zu sehen bekommen, vergeht eine ganze Weile in Marcus Richardts Debütfilm „Goliath96“. In dieser Zeit folgen wir der Mutter. Eine Alleinerziehende. Eine Alleinerziehende, der ihr einziger Sohn abhandengekommen ist. Denn er hat sich weggeschlossen. Sie spricht mit ihm durch die Zimmertür, nachts hört sie ihn durchs Haus schlappen, morgens liegt im Gefrierfach eine Tiefkühlpizza weniger. Und zugleich muss Kristin selbst klarkommen mit ihrem Leben – was nicht wirklich gelingt. Sie kündigt ihren Job bei der Bank, weil sie emotional und beruflich fertig ist, hat nichts zu tun, weiß aber, dass es nicht besser wäre, wenn sie was zu tun hätte.

Katja Riemann spielt diese Mutter in einer grandiosen Soloperformance: Über weite Strecken des Films ist sie praktisch allein. Hat kein Ziel, keine Bewegungsrichtung, es passiert auch nichts – und das muss man erstmal hinkriegen: Das Nichtstun interessant gestalten. Riemann und ihrem Regisseur Richardt gelingt dies formidabel, weil die Figur der Kristin aufgeladen ist mit alltäglichen Widersprüchen. Und weil sie gegen eine Wand steht, in die Ecke gedrängt, und hinter der Wand, da sitzt David und muckst nicht.

Per Zufall kommt sie auf die Drachenbauleidenschaft des Sohnes und ergoogelt sich seinen Benutzernamen. Sie nimmt Kontakt mit ihm auf, per Chat, im virtuellen Raum, anonym als „Cinderella97“. Und wie ein Teenager kichert sie vor sich hin, als David sich meldet, sie weiß, wie sie ihn locken kann: lässt ihn warten, bis er von sich aus auf sie zukommt, es ist von Anfang an ein Spiel, das aussieht wie ein Flirt. Und das eigentlich nur die Wieder-Etablierung der Mutterrolle sein will. Von ihrer Seite aus. Zu diesem Zeitpunkt aber kommt David ins Spiel und in den Film. Wir blicken in sein zugemülltes Zimmer, das von Computer und Drachenbauutensilien bestimmt wird. In dem er seit zwei Jahren haust.

Und in diesem Moment geschieht das Besondere an diesem Film. Denn es schleicht sich eine doppelte Perspektive ein: Wir sehen nicht mehr nur die Nöte der Mutter, die die ultimative Entfremdung erfährt, die Verachtung ihres Sohnes, die Isolation; sondern auch die Bedürfnisse des Sohnes, der sich seit Jahren wegschließt, der sich selbst vom Leben entfremdet, aus innerem Trieb heraus, ohne etwas dagegen tun zu können. Der seit langem zurückgeworfen ist auf die grundlegenden Bedürfnisse, die er in der Nacht erfüllt: Essen, Toilette. Und dem nun urplötzlich, unerwartet etwas Zwischenmenschliches widerfährt. Worauf er ganz unwillkürlich reagiert: Er, der so lange nichts wollte, kommt ins Begehren hinein. Und es ist für ihn nicht leicht, sich aus der selbstgewählten Isolation, aus der selbstauferlegten Verwahrlosung herauszukämpfen.

Da steckt natürlich der gute alte Ödipus drin, in dieser Mutter-Sohn-Geschichte. Der Sohn liebt jemanden, von dem er nicht weiß, dass es die Mutter ist. Die Mutter, im Bemühen um die Beziehung, forciert ungewollt die Triebe des Sohnes. Der Vater ist schon lange weg … Aber nach Bauplan konstruiert wirkt der Film dennoch nicht. Er hat irgendwie mit dieser Welt zu tun, mit dem Alltag, mit den Problemen der Routine – und transzendiert das zugleich in eine Art Über-Zustand des Zugespitzten. Aus den Wurzeln des Mythischen und denen des Realistischen erwächst ein faszinierendes Zwitterwesen, das sich in den Rückblenden am besten offenbart: Da sehen wir, zehn Jahre zuvor, einen glücklichen Tag am Strand, der Sohn mit dem Vater beim Drachensteigen, die Mutter entspannt, Bilder des Glücks – Bilder, die visuell überhöht sind, die vielleicht nur eine schöngefärbte Erinnerung bebildern, nicht die tatsächliche Vergangenheit. Der Vater geht aus dem Bild, am Meer entlang, und entschwindet. Seine Abwesenheit prägt den Film, wird aber niemals erklärt: Eine Leerstelle, die zunächst verstört, die aber dann doch logisch ist. Weil sie der Punkt ist, an dem sich Mutter und Sohn wieder treffen können, wenn auch unter ungeahnten Vorzeichen.

Goliath96 ist ein Debütfilm. Er trägt ein paar Fehler in sich, die typisch für Erstlingsarbeiten sind. Die Musik ist von der Art, wie sie in solchen Filmen immer zu hören ist, und die immer zu dudelig penetrant wirkt. Mitunter wird ein bisschen zu viel erklärt – es gibt ein, zwei Szenen, in denen das, was wir schon wissen oder ahnen, von den Figuren ausgesprochen wird. Und das Drachenbauen: Ein Winddrache ist zugleich Symbol der Freiheit, wie er in der Weite dahingleitet, ist aber zugleich gebunden, an einer Leine, die länger oder kürzer sein kann. Als Metapher ist das ein starkes Bild, zugleich aber fast etwas zu offensichtlich.

Das wirkliche Problem des Films aber liegt außerhalb: Dass nämlich das Phänomen Hikikomori, in dem sich Jugendliche aus Gründen von Stress und Überforderung von der Gesellschaft wegschließen, schon Anfang des Jahres in Isabel Prahls Filmdrama 1000 Arten Regen zu beschreiben thematisiert wurde. Die Produktionszeit der beiden Filme hat sich überschnitten, Prahl war zuerst fertig – und Goliath96 kann nun gar nichts dafür, dass er wie ein Nachzügler erscheint.

Goliath96 (2018)

In ihrer verzweifelten Sehnsucht nach Nähe und Verständnis versucht eine alleinerziehende Mutter, wieder Kontakt zu ihrem erwachsenen Sohn zu bekommen, der sich seit zwei Jahren rigoros in seinem Zimmer abschottet. Sie ahnt nicht, daß sie dabei Gefahr läuft, ihn für immer zu verlieren…

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