From What is Before

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Im Königreich des Regens

In der ersten Einstellung ist der Regen. Er wird aufhören, beginnen, tropfen, prasseln und einen für 338 Minuten immer wieder nass machen. Mit From What Is Before setzt Lav Diaz seine poetisch-kontemplativen und historischen Betrachtungen der Philippinen fort. Der Film brachte ihm den Goldenen Leoparden in Locarno ein und vereint all die Qualitäten, die man aus seinem Kino kennt: Eine wundervolle digitale Schwarz-Weiß-Fotografie, auf die Diaz nach seinem Farbausflug in Norte, the End of History wieder zurückgreift, die Kreation magischer Kinomomente in Zeit und Raum, die fast ethnografische Betrachtung von Lebensweisen, Schuld und Sühne Thematiken von epischem Ausmaß und eine politische Radikalität, die sich durch Form und Inhalt ausdrückt.
Es ist nicht zu leugnen, dass Diaz ob der Länge seiner Filme ein Nischenkünstler ist und alleine schon durch seine Konsequenz und seine öffentliche Unbekanntheit immer wieder Filmkritiker zu emotionalen Lob- und Verteidigungsschriften inspiriert. Die Wahrheit ist, dass man einen Film von solchem Ausmaß, der zudem so sehr in seiner, einer mir fremden Kultur verwurzelt ist, natürlich nicht durch einmaliges Sehen fassen kann. Daher kann ich nur meine Beobachtungen wiedergeben und meinen tiefen Respekt für all die großartigen Dinge, die ich erkennen konnte und all die Geheimnisse, die ich dahinter noch vermute.

Gewissermaßen komplettiert From What Is Before eine Trilogie von Filmen, die sich allesamt mit der Marcos Diktatur beschäftigen. Nachdem sich Diaz in Batang West Side in einer Welt der Nachwirkungen jener grausamen Periode einer nationalen Geschichte befasste und in Filipino Family die Phase während der Verhängung des Kriegsrechts beleuchtete, spielt sein neuester Film in den Anfängen des Albtraums zu Beginn der 1970er Jahre. 1972 verhängte Ferdinand Marcos das Kriegsrecht und läutete damit eine politische Zeit ein, die auf brutalste Weise die Seele einer Bevölkerung systematisch vernichtete. Dabei arbeitet Diaz zwar immer wieder mit eindeutigen politischen Verweisen, aber im Kern interessieren ihn das menschliche Leben, der Alltag und dessen Zerstörung, die aus dem größeren Kontext entstehen. Die Hintergründe zu kennen, bedeutet hier einen anderen Film zu sehen, als sie nicht zu kennen. Aber sie nicht zu kennen, bedeutet nicht zwangsläufig einen weniger interessanteren Film zu sehen. Dafür ist die Reichweite der Poetik von Diaz zu universell. Der Film, so eine Voice-Over Stimme, würde auf Erinnerungen basieren und die Charaktere auf wahren Menschen.

From What Is Before betrachtet die Ereignisse und Personen in einem entlegenen Dorf, das leidend und doch friedlich lebt bis der Ort den Unterdrückungsmechanismen von Marcos zum Opfer fällt. Nach einer beeindruckenden Exposition, die elliptisch, statisch und fast wortlos den alltäglichen Kampf der Figuren und Familien zeigt, beginnt ein immer lauter werdender Horror im Dorf. Häuser brennen und Kühe werden abgeschlachtet. Irgendwann kommt ein brutal-sorgloses Militär, das in Form einer Undercover-Frau schon von Anfang an das Dorf unterwandert hat. Die Bewohner sind gezwungen zu fliehen und es bleiben nur noch vereinzelte Seelen in einer Totenstadt oder Stadt der Toten.

Auch jenseits der politischen Ereignisse, aber immer in deren Schatten spielen sich Familientragödien ab. Am eindrücklichsten ist dabei jene der geistesgestörten Josefina und ihrer sie pflegenden Schwester. Josefina leidet, sie ist verkrampft, man kann ihren Schreien und Windungen kaum zuhören. Ihre Schwester opfert sich für sie auf. Sie pflegt sie, reinigt sie, füttert sie. Dabei reist sie mit Josefina durch das Dorf, um als Heilerin aufzutreten. Immer wieder opfert sie einem göttlichen Felsen ihre Gaben. Verfolgt wird sie dabei von einem jungen Mann, der diese Gaben stiehlt und hungrig verzehrt und sich in einer schockierenden Szene an Josefina vergreift. Diaz zeichnet hier eine Landschaft zwischen religiöser Fatalität, Atheismus und einer Geisterwelt. So wird Albträumen eine große Bedeutung beigemessen und ein Baumgeist fungiert als stiller, aber bedrohlicher Beobachter. Die Schwester wird an ihrem Schicksal zerbrechen.

Ab und an driftet man ab, man verliert sich und spürt eine zeitliche Wucht, wenn man sich und den Film wieder auffängt. So gibt es eine unfassbar lange Schuss-Gegenschuss Passage an einer Waldhütte. Zuerst sieht man aus Sicht einer Frau auf die von einem an den Protagonisten von Lisandro Alonsos La libertad erinnernden Mann (der, der sich an Josefina vergreift) bewohnte Waldhütte. Irgendwann wechselt der Film die Perspektive und man sieht die Frau von der Hütte aus, in der Tiefe des Bildes erscheinen. Diese Tiefe des Bildes ist eines der Gewichte von Diaz, der die filmische Sprache mit seiner digitalen Schönheit in Perfektion beherrscht. Das bedeutet nicht, dass sich nicht technische Mängel in der Ton- und Lichtgestaltung auftun würden, die womöglich dem geringen Budget mit dem Diaz arbeitet geschuldet sind, aber vielleicht auch eine eigene Geschichte von der Fiktionalisierung von geschichtlichen Prozessen erzählen. Vielmehr ist sein Verständnis für Raum und Zeit außergewöhnlich. Die Bilder formieren sich zu einer kontemplativen Sinfonie, in der jede einzelne Einstellung von einer grundsätzlichen Schönheit erfasst ist.

Dabei sind es vor allem zwei formale Strategien, die ins Auge fallen. Erstens die Rahmungen, die Diaz fast in die Nähe eines John Fords bringen. So filmt er seine Figuren durch Türen und Fenster, Bäume und Äste. Manchmal ist der Rahmen gar bedeutender als das Bild darin. So wird ein Wassertropfen, der an einer Pflanze hängt, zum visuellen Zentrum des Bildes. Das, was man Handlung nennen kann, passiert jenseits dieses kleinen Naturschauspiels. Spannend wird es auch, wenn seine Protagonisten im dichten Blätterwald des Urwalds kaum erkennbar sind oder erst nach langer Zeit darin erscheinen und so zeigen, dass die natürliche Umgebung eine eigene Rolle innehat, die mit den Menschen korrespondieren kann, aber nicht muss. Die Umwelt ist monumental, der Mensch darin ist klein. Zum anderen sind es die Gesichter. Insbesondere in Tableaus, in denen man mehrere Menschen auf einmal sieht, weiß man gar nicht, wohin man schauen will, da sich in jeder Figur kleine Dramen abspielen. Jedes Gesicht erzählt hier eine Geschichte und Diaz zwingt uns nicht ein einzelnes Gesicht auf. Der Zuschauer entscheidet, welches Gesicht, welche Geschichte ihn interessiert. Aber in der Zusammenschau wird man wohl doch zu denselben Schlüssen gelangen.

Dabei erreicht Diaz etwas, von dem Michael Haneke in seinem Film Das weiße Band — Eine deutsche Kindergeschichte geträumt hat. Er zeigt, wie ein politisches Versagen aus Menschen hervorgeht, die einen falschen Umgang mit der Wahrheit wählen. Zum einen gibt es verschiedene Ereignisse, die von den Bewohnern kollektiv verheimlicht werden. Da gibt es einen Jungen, der nicht erfahren darf, dass seine Eltern bereits tot sind und einen Selbstmord, der von den Zeugen verschwiegen wird. Selbst, wenn sie es kaum aushalten. Als könne man damit die Seele retten. Es ist fatal, denn wenn Wahrheiten verschwiegen werden, ist ein sozialer und politischer Terror im vollen Gange. Zum anderen wird die Gewalt in den totalen Einstellungen, die in nüchternen Sequenzen von Diaz betrachtet werden banalisiert. Außer in einer etwas extrem überzeichneten Soldatin geschehen die Gewalttaten wie in der erdrückenden letzten Szene des Films in einer undramatischen Einfachheit, die einen das Grauen in seiner zeitlichen Entwicklung fassen lassen. Da gibt es keine schmerzverzerrten Nahaufnahmen und keine dramatische Musik (looking at you, Steve McQueen) sondern den Horror als Teil dieses Lebens. Und das ist natürlich weitaus grausamer und gerechter.

Die Meisterschaft, die Diaz über seine politisch grausame Geistergeschichte erlangt hat, zeigt sich in einer Sequenz, in der eine ältere Frau den Tod ihres Sohnes betrauert. Zunächst sehen wir einen Mann und eine Frau an einem Fluss. Plötzlich sieht der Mann etwas Off-Screen, ein unheimliches Gefühl entsteht. Es beginnt zu regnen. Etwas ist passiert. Es wirkt als würde ein böser Geist erscheinen, man bekommt es mit einer unsichtbaren Angst zu tun. Dann erscheint im Bildhintergrund die Frau. Sie bricht zusammen und beklagt weinend den Tod ihres Sohnes. Kurz darauf sitzt sie in einem Kreis und singt über den Tod ihres Sohnes und ihr Schicksal. Die Frauen und Männer, die um sie sitzen beginnen nach und nach zu weinen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, man muss selbst weinen, man spürt jeden Tropfen Verlorenheit.

Es ist bezeichnend, dass diese Szene am Wasser ihren Ausgangspunkt hat. Neben dem Regen spielen auch Flüsse, ein gewaltiges Meer, das über Felsen donnert und überflutete Felder eine große Rolle. Als würde die Vergangenheit davon vernichtet werden, als würden sich die Erinnerungen darin verlieren. So wird auch einer der letzten Dorfbewohner auf dem Wasser verbrannt. Denn das Feuer ist auch zerstörerisch. Es spielt aber weniger nach den Regeln der Natur. Denn mit der zerstörerischen Kraft des Wassers können die Menschen umgehen, dorthin kehren sie zurück in den Tod. Mit dem Feuer jedoch nicht. Und so ist es am Ende auch ein Feuer, das erbarmungslos nahe den hängenden Körpern sein Unwesen treibt. Es leuchtet, es flimmert, es brennt und es zerstört.

From What is Before

In der ersten Einstellung ist der Regen. Er wird aufhören, beginnen, tropfen, prasseln und einen für 338 Minuten immer wieder nass machen. Mit „From What Is Before“ setzt Lav Diaz seine poetisch-kontemplativen und historischen Betrachtungen der Philippinen fort. Der Film brachte ihm den Goldenen Leoparden in Locarno ein und vereint all die Qualitäten, die man aus seinem Kino kennt:
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