Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für die Davidswache (Limited Edition)

Eine Filmkritik von Stefan Dabrock

Mausefalle Hamburg

Das deutsche Genre-Kino hat eine lange Traditionslinie, die von Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (Deutschland 1922) über Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder (Deutschland 1931) bis zu den flirrenden Werken der 1960er und 1970er Jahre reicht. Danach ging es langsam bergab und heute findet kaum einmal ein lohnenswerter Genrefilm aus Deutschland den Weg ins Kino. In der Edition Deutsche Vita sind bislang die Filme Zinksärge für die Goldjungs und Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn erschienen, die zwischen Kolportage, schnörkellosem Spannungskino und Gesellschaftssatire changierend eine griffige Genreform etablierten. Unterhaltung paart sich mit bissigen Kommentaren zu Machtverhältnissen im politischen und wirtschaftlichen Establishment.
Die dritte Veröffentlichung der DVD-Reihe, Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für die Davidswache, hat mit Wolfgang Staudte nicht nur einen Regisseur zu bieten, der einen präzisen Blick für Charaktere und deren spezifische Lage besaß, sie wartet auch mit einem anderen Inszenierungsstil auf.

Der Bankräuber Willy Jensen (Horst Frank) bricht aus dem Gefängnis aus, um mit der versteckten Beute ins Ausland zu flüchten. Doch das Haus, in dem sich das Geld befinden soll, wird gerade abgerissen, als er mit seinem Komplizen Timpe (Siegurd Fitzek) ankommt. Ohne die passende Barschaft hat Jensen keine Chance, Hamburg verlassen zu können, da bereits eine Großfahndung läuft. Er braucht dringend falsche Ausweispapiere. Deswegen fährt er zu seinem älteren Bruder Heinz (Heinz Reincke), der als Taxifahrer arbeitet. Dort muss Willy feststellen, dass seine Frau Vera (Christiane Krüger) inzwischen mit seinem Bruder ins Bett geht. Das gesparte Geld will Heinz nur für ein Wiederaufnahmeverfahren einsetzen, wenn sich Willy stellt. Der entflohene Sträfling hat jedoch keine Lust, wieder in den Knast zu wandern. Er nimmt seine Frau als Geisel und versucht gemeinsam mit Timpe als Helfer auf anderem Weg an Geld zu kommen. Währenddessen befindet sich Kommissar Knudsen (Klaus Schwarzkopf) auf der Jagd nach Willy.

Die rassigen Orchesterklänge zwischen Jazz, Tanz- und Rockmusik fügen sich perfekt in die Muster ein, die vorangegangene St-Pauli-Filme etabliert haben. Hier ist Staudtes Ausbrecherdrama ganz auf der Linie der grelleren Genrebeiträge, aber die Bilder weichen davon ab. Schmutzige Hinterhöfe sehen in Fluchtweg St. Pauli tatsächlich schmutzig aus. Die Muffigkeit der schnöden Nachkriegsarchitektur einiger Wohnstraßen mit mehrstöckiger Blockbebauung erzählen vom bescheidenen Heim, in dem sich Arbeiter und Bürger eingerichtet haben. Davon möchte Willy nichts wissen. Er ist auf der Suche nach dem Reichtum, der ihm seiner Meinung nach zusteht. Und wenn er ihm nicht in die Füße fällt, dann muss er eben Gewalt anwenden. Seine Kriminalität repräsentiert eine Sehnsucht nach dem Ausbruch aus der simplen Realität. Dabei merkt er erst langsam, dass er sich trotz aller Fluchtbemühungen immer in einem Gefängnis befindet. Die Mauern der Haftanstalt tauscht er gegen Hamburg ein, aus dem er nicht herauskommt. Er hat mehr Auslauf, aber die Freiheit, die er im Ausland zu hoffen glaubt, ist unerreichbar.

In klassischer Manier setzt ihm der Film einen Bruder als Gegenentwurf vor die Nase, der als Taxifahrer mit kleiner Wohnung und Frau glücklich ist. Dieser Heinz erinnert den rotzig auftretenden Willy immer wieder daran, was er nicht sein will. Daraus entwickelt Staudte eine grimmige Dynamik, die durch die familiäre Bande noch verstärkt wird. Willy muss nicht nur aus dem baulichen Knast, aus Hamburg, aus der deutschen Realität ausbrechen, er müsste auch seine Verwandtschaftsfesseln sprengen, um frei zu sein. Aber das ist unmöglich, weil selbst ein toter Heinz immer noch ein Mahnmal dessen wäre, was Willy nicht genug war.

Staudtes kompakter, aber stärker an realistischen Bildern interessierter Inszenierungsstil, der auf besonders geleckte Tableaus verzichtet, verleiht dem Film eine raue Atmosphäre. Er bindet die Figuren in Szenerien natürlich wirkender Dramatik ein, die sich vom grellen Kolportagestil unterscheidet. Statt galliger, visueller Metapher mit satirischem Einschlag herrscht der Geruch der Straße vor, der unmittelbar authentisch wirkt, auch wenn der Film natürlich kein klassisches Sozialdrama, sondern immer noch ein Genrefilm mit spannungssteigernder Dramaturgie ist.

Nur kurz greift Staudte das Thema der Verkommenheit bei den Wohlhabenden auf, wenn ein Unternehmer den Tod seiner Frau nicht betrauert, sondern stattdessen freudig seine Geliebte anruft. Er konzentriert sich auf den Bruderkonflikt, der die Diskrepanz zwischen Traum und Realität prägnant auf den Punkt bringt. Horst Frank erweist sich als ideale Besetzung für den Ausbrecher, der immer mit dem Rücken zur Wand steht und jederzeit Gewalt anwenden kann. Die rotzige Attitüde des scheinbar Überlegenen, der noch nicht weiß, dass er kaum eine Zukunft hat, liegt Frank im Blut, während Heinz Reincke die überraschend zurückhaltende Rolle des rechtschaffenen Bürgers ebenso souverän meistert. Beide harmonieren so perfekt, dass die Spannung greifbar wird.

Die Vorlage für die DVD befindet sich in einem guten Zustand, sodass keine nennenswerten Defekte oder Verschmutzungen zu sehen sind. Die leicht matschige Optik des Films stört nicht, da sie der Qualität des verwendeten Filmmaterials entspricht. Die Schärfe kann deswegen mit sehr ordentlichen Werten überzeugen. Die leicht reduzierten Farben kommen ebenfalls gut zur Geltung, sodass die raue Atmosphäre des Films erhalten bleibt. Der Kontrast kann nicht ganz verhindern, dass in dunklen Szenen einzelne Details verschluckt werden, aber auch das hält sich in Grenzen. Analoges Rauschen ist vorhanden. Insgesamt handelt es sich um einen guten Transfer, der auf eine übertriebene Bearbeitung verzichtet, die eher Verschlechterungen herbeiführen würde.

Der Mono-Ton weist ein Hintergrundrauschen auf, das immer wieder gut vernehmbar ist. Die Dialoge lassen sich aber stets sehr gut verstehen. Sie machen einen guten Eindruck, auch wenn die Dynamik etwas reduziert ist. Die flirrende Musik kommt gut zur Geltung.

Der Audiokommentar von Christian Kessler und Pelle Felsch ist besser geraten, als bei Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn. Beide greifen wesentlich seltener zum Konjunktiv und vermitteln dadurch das Gefühl, dass sie auch wissen, wovon sie sprechen. Im Mittelpunkt stehen Informationen über die Darsteller sowie den Regisseur und gelegentlich auch mal ein kurzer Einwurf zur Machart des Films. Insgesamt ein lohnenswerter Audiokommentar.
Ein Trailer sowie eine Bildergalerie sind auf der DVD ebenfalls enthalten. Auf einer separaten CD ist der wunderbare Soundtrack des Films aus der Feder des Komponisten Peter Schirmann beigelegt. Im 16-seitigen Booklet setzt Pelle Felsch seinen informativen Text über die historische Entwicklung St. Paulis fort, den er im Booklet zu Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn begonnen hatte. Er setzt in den 1960er Jahren ein und arbeitet sich bis 2007 fort.

Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für die Davidswache überzeugt als rasant erzähltes Bruderdrama, das den Traum von Ausbruch aus der muffigen Realität einem Lebensentwurf gegenüberstellt, der sich mit dem bescheidenen Wohlstand arrangiert hat.

Fluchtweg St. Pauli – Großalarm für die Davidswache (Limited Edition)

Das deutsche Genre-Kino hat eine lange Traditionslinie, die von Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“ (Deutschland 1922) über Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (Deutschland 1931) bis zu den flirrenden Werken der 1960er und 1970er Jahre reicht. Danach ging es langsam bergab und heute findet kaum einmal ein lohnenswerter Genrefilm aus Deutschland den Weg ins Kino.
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