Flucht nach Berlin

Eine Filmkritik von Falk Straub

So weit die Füße tragen

Ein Drama, ein Sittengemälde, ein Roadmovie, ein Actionfilm und eine Prise Film noir – all das ist Will Trempers Flucht nach Berlin. In der Rückschau aber vor allem eines: ein atmosphärisch dichtes, historisches Dokument, das seiner Zeit voraus war.
Wenn Claus Baade (Christian Doermer) spricht, dann funkeln seine Augen, ja sie brennen geradezu. Dieser junge Funktionär der Sozialistischen Einheitspartei (SED) ist kein Mitläufer, kein Opportunist wie sein Vater. Baade ist Feuer und Flamme und auf einer Mission. Gemeinsam mit einem Omnibus voller Parteifunktionäre klappert er 1960 die ostdeutschen Dörfer ab. Die letzten noch widerwilligen Bauern sollen endlich den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) beitreten. Die Taktik: Zermürbung durch Hartnäckigkeit. „Wir sind geduldig. Wir kommen so lange, bis Ihnen die Ohren wehtun“, lässt Baade den Bauern Hermann Güden (Narziss Sokatscheff) wissen.

Güden ist der Wortführer seines Dorfes. Der Bürgermeister ist schon lange weg. Ab nach Westberlin. Die übrigen Bauern vertrauen auf Güden, rechnen fest damit, dass dieser dem jungen Funktionär Paroli bietet. Doch dessen stechendem Blick und scharfen Formulierungen hat Güden nur wenig entgegenzusetzen. Von der staatlich angeordneten Zwangskollektivierung hat er genug. Mit Frau und Kind plant er die Flucht. Seine Augen wirken müde. Und so stimmt Güden dem Beitritt in die LPG zu. Ein Ablenkungsmanöver. Im Privatgespräch mit Baade gelingt dem Bauern die Flucht. Sein Ziel: Westberlin. Und schlagartig erfährt Baade, was es bedeutet, in der SED einen Fehler zu machen. Die Partei lässt ihn fallen, verdächtigt ihn der Beihilfe zu Güdens Republikflucht. Doch der Idealist denkt gar nicht daran, sich unterkriegen zu lassen. Heimlich macht er sich ebenfalls auf nach Berlin, dessen Ostteil wohlgemerkt. Wenn es sein muss bis zu Walter Ulbricht persönlich.

Will Trempers Flucht nach Berlin ist ein kleines politisches Roadmovie. Wenn die Kamera bei einer Verfolgungsjagd auf dem Rücksitz eines Wagens durch eine Verkehrskontrolle rast, dann weht ein Hauch Nouvelle Vague durch diesen Film. Ein bisschen Film noir hingegen, wenn Güden des Nachts im Schutze der Dunkelheit ein Motorboot besteigt. Ein Jahr vor dem Mauerbau fasst Tremper ein heißes Eisen an. Die Finger verbrennt er sich nicht. Denn sein Blick auf die deutsch-deutschen Verhältnisse ist nie einseitig, weder von der kapitalistischen noch von der sozialistischen Sicht geprägt. Sicher: Tremper klagt an, verurteilt ein Regime, das die Reisefreiheit seiner Bürger mit Waffengewalt einschränkt. Der Regisseur und Drehbuchautor zeigt aber auch die andere Seite: Idealisten wie Baade, die eben jene Zustände verbessern wollen. Baade ist es auch, der seinen Vater harsch angeht. Für den jungen Funktionär ist der alte Herr ein feiger Opportunist, der sein Fähnchen im Dritten Reich ebenso nach dem Wind drehte wie jetzt in der DDR. Eine Abrechnung mit der Elterngeneration lange vor den 68ern.

Will Trempers Œuvre als Regisseur ist schmal. Sechs Filme schlagen zwischen 1960 und 1970 zu Buche. Danach führte er bis zu seinem Tod im Jahr 1998 nie wieder Regie. Doch über Arbeit konnte sich der Autodidakt nie beklagen. Tremper war Pianist, Ghostwriter und Journalist, Romancier, Drehbuchautor und Chefredakteur. Er schrieb die Buchholz-Filme Die Halbstarken (1956), Endstation Liebe (1957/1958) und Nasser Asphalt (1958), bevor er 1960 bei Flucht nach Berlin erstmals selbst Regie führte. Ein Jahr später startete sein Debüt in den Kinos und erhielt beim Deutschen Filmpreis zwei Filmbänder in Gold. Das Publikum war Trempers Fluchtgeschichte hingegen weniger gewogen. Vielleicht war das Thema zu kontrovers, vielleicht seiner Zeit voraus.

Eins ist jedenfalls sicher: Tremper hatte keine Scheu davor anzuecken. Mehr als einmal hagelte es Klagen gegen seine journalistische Arbeit. Bei den Dreharbeiten zu Flucht nach Berlin prügelte er sich mit seinem Kameramann. Tremper war sich bei der Ausleuchtung einer Szene mit ihm uneins. Und auch das Finale seines Spielfilmdebüts kam nicht gut an. Der damalige Ministerialrat in Bonn sah darin einen Affront gegen den Westen. Tremper hielt dennoch daran fest. Doch Constantin-Film schnitt den Film um.

Auf der DVD sind nun erstmals beide Versionen zu sehen; ebenso wie Interviews mit dem Schauspieler Christian Doermer und dem Komponisten Peter Thomas. Gemeinsam mit dem Booklet ergeben sich erhellende Einblicke in das Werk eines streitbaren Filmemachers, der vielen neben Herbert Vesely und Ottomar Domnick als einer der ersten Vertreter des deutschen Autorenfilms gilt.

Flucht nach Berlin

Ein Drama, ein Sittengemälde, ein Roadmovie, ein Actionfilm und eine Prise Film noir – all das ist Will Trempers „Flucht nach Berlin“. In der Rückschau aber vor allem eines: ein atmosphärisch dichtes, historisches Dokument, das seiner Zeit voraus war.
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