Einer von uns (2015)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Im Supermarkt der verlorenen Seelen

Wie sehr sich doch Anfang und Ende gleichen. Es sind nahezu die gleichen Bilder, die wir hier sehen: Detailaufnahmen, Raumanordnungen, Miniaturen eines Stillstands, eines Moments, in dem die Erde aus den Angeln gehoben ist. Eines Moments, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es vorher war: Die sich langsam ausbreitende Pfütze einer blauen Flüssigkeit, ein regungslos auf dem blank polierten Boden liegender Körper, ein Gesicht, ein Körper von schräg hinten, erstarrt und eigefroren. Diese eindrücklichen Impressionen, eingefangen in sorgsam kadrierten Bildern, die aus der Zeit gefallen sind, bilden die sichtbare Klammer von Stephan Richters intensivem Drama Einer von uns, das basierend auf realen Ereignissen aus dem Jahre 2009 rund um tödliche Schüsse auf einen jugendlichen Einbrecher in einem Supermarkt einen Blick in den Abgrund der suburbanen Hölle gewährt. Ein Film, der das Kunststück vollbringt, zugleich karg und dicht zu sein, formal streng und doch voller berstender Energie und sublimierter Wut – kurzum: ein Meisterwerk.

Einer von uns ist keine minutiöse Nachzeichnung des realen Falles, sondern eine freie – und gerade dadurch umso bewegendere Interpretation der Tat, die damals ganz Österreich erschütterte und eine Diskussion um Polizeigewalt und Jugendkriminalität auslöste. Angefacht wurde die Debatte noch durch einen unsäglichen Kommentar in der Kronen Zeitung (dem österreichischen Pendant zu dem deutschen Boulevard-Blatt mit den vier Buchstaben), in dem der Kolumnist Michael Jeannée den zynischen Kommentar „Wer alt genug ist zum Einbrechen, ist auch alt genug zum Sterben“ absonderte.

Einer von uns erinnert im guten Sinne an viele anderen Vorbilder: An Gus van Sants Elephant ebenso wie an die Sozialdramen Ulrich Seidls (Hundstage), an die Strenge eines Michael Haneke, an die Hoffnungslosigkeit in Larry Clarkes Filmen und in manchen Momenten sogar an die fotografisch komponierten Warenwelten eines Künstlers wie Andreas Gursky oder die schneidend-kalten und unglaublich präzisen literarischen Analysen österreichischer Verhältnisse einer Elfriede Jelinek. Dennoch ist dieser Film ein höchst originelles Werk geworden, das mehr als nur neugierig macht auf das, was Stephan Richter als nächstes folgen lässt.

Fast ausschließlicher Handlungsort ist der Supermarkt, in dem es schließlich zu der Katastrophe kommt, und dessen trostlose Umgebung. Mangels Alternativen ist dieses Brachland des Konsums der Treffpunkt einiger Jugendlicher, die hier abhängen, chillen, Joints rauchen und von einem besseren, freieren Leben träumen: Da sind der erst 14-jährige Julian (eine echte Entdeckung: Jack Hofer), dann der Möchtegerne-Gangster Victor (Christopher Schärf, der mit seiner Zöpfchen-Frisur und dem nervösen Blick fatal an James Franco in Spring Breakers erinnert) und der gerade erst aus dem Knast entlassene Marko (Simon Morzé) sowie einige andere Kids. Außerdem der Supermarktleiter Joseph Winkler (Markus Schleinzer, der Regisseur von Michael), Michael (Dominic Marcus Singer), der gerade erst in dem Supermarkt angefangen hat, und die Polizisten Werner (Andreas Lust), Birgit (Birgit Linauer) und Georg (Rainer Wöss). Eltern oder überhaupt das familiäre Umfeld spielen hingegen bis auf eine Ausnahme keine Rolle in dieser Figurenanordnung, das Niemandsland des Supermarktes gleicht vielmehr einer isolierten Laborsituation, in der Frust, Einsamkeit, milde Konsumkritik und psychodynamische Gruppenprozesse langsam vor sich hinköcheln und sich schließlich vehement entladen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Exekutive und den juvenile delinquents zusehends und werden mit fein eingestreuten Andeutungen inszeniert – so hängt einer der Polizisten, der in seiner Freizeit mit einem „Paragraph 83“-T-Shirt (der Paragraph bezeichnet im österreichischen Strafgesetzbuch den Tatbestand der Körperverletzung) der zur Wiener Hooligan-Szene gehörenden Rapper Droogieboyz herumläuft, ebenfalls in seiner Freizeit auf dem Supermarkt-Parkplatz ab. Täter und Opfer treten hier in vielerlei Rollen auf. Was sie verbindet, ist die Unentrinnbarkeit einer Gesellschaft, deren Prinzipien und Bindeglieder ihr längst abhanden gekommen sind.

Dabei kommt dem Handlungsort eine verdichtende Rolle zu, die ihn fast wie einen eigenständigen Akteur erscheinen lässt: „Der Supermarkt selbst ist stiller Beobachter und stoischer Protagonist, an dem jegliche menschliche Regung abprallt. Ein klassischer Nicht-Ort, der zwar Unmengen an Sehnsüchten generiert, aber keine Geschichte und keine Identität zulässt. Ein stummer Zeuge eines tragischen Verbrechens und der Sieger in einer Geschichte, in der alle Beteiligten verlieren.“, beschreibt Stephan Richter selbst diesen Unort, an dem spätkapitalistische Funktionalismen den zwischenmenschlichen Begegnungen jede Wärme und Nähe entzogen haben.

Eingefangen von einer überaus präzisen und bildfindungsreichen Kamera (Enzo Brandner), virtuos geschnitten und mit einem überaus hörenswerten Soundtrack unterlegt (komponiert von Maja Osojnik und Matija Schellander und ergänzt durch österreichischen HipHop), gelingt Stephan Richter ein zu gleichen Teilen beunruhigend realistisches wie über die Maßen stilisiertes Werk, das vieles offenlegt, aber nicht alles auserzählt, das anschneidet, betört, zum Nachdenken verführt und dennoch emotional zutiefst erschüttert.

Dass Stephan Richter mit seinem Film Einer von uns den Max Ophüls Preis 2016 gewonnen hat, ist trotz starker Konkurrenz (Heimatland, Agnes, Sex & Crime, Der Nachtmahr) überaus verdient. Es zeigt darüber hinaus – wie auch in den letzten Jahren zu sehen war – , dass die Ausrichtung Saarbrückens auf den deutschsprachigen Film fern jeder nationalen Grenzen die Bedeutung des Festivals gegenüber vergleichbaren Institutionen noch ein wenig mehr hervorhebt: In den letzten Jahren wechselten sich Deutschland, Österreich und die Schweiz als Gewinner mit schöner Regelmäßigkeit ab – und das zeigt, dass der Blick über den nationalstaatlichen Tellerrand gerade dem deutschen Kino einiges bringen kann. Die Konsequenz und formale wie inhaltliche Wucht des Gewinnerfilms jedenfalls war in diesem Jahrgang des Festivals in vielerlei Hinsicht ein echter Höhepunkt.

Es bleibt zu hoffen, dass das Filmfestival Max Ophüls Preis trotz der bevorstehenden Veränderungen (die Festivalleiterin Gabriella Bandel nimmt nach Auseinandersetzungen mit politischen Entscheidungsträgern ihren Hut) diese mutige Ausrichtung beibehalten kann. Der filmische Nachwuchs braucht solche Festivals wie in Saarbrücken dringend.
 

Einer von uns (2015)

Wie sehr sich doch Anfang und Ende gleichen. Es sind nahezu die gleichen Bilder, die wir hier sehen: Detailaufnahmen, Raumanordnungen, Miniaturen eines Stillstands, eines Moments, in dem die Erde aus den Angeln gehoben ist. Eines Moments, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es vorher war: Die sich langsam ausbreitende Pfütze einer blauen Flüssigkeit, ein regungslos auf dem blank polierten Boden liegender Körper, ein Gesicht, ein Körper von schräg hinten, erstarrt und eigefroren.

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