Eine Komödie im Mai

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Frankreich und 68

Die Entscheidung des französischen Filmemachers Louis Malle, die Hauptrolle eines seiner letzten Filme mit dem damals bereits legendären Grandseigneur des französischen Theaters und Kinos Michel Piccoli zu besetzen, entbehrt nicht eines gewissen Risikos. So universell einsetzbar der mittlerweile 89-jährige Schauspieler auch erscheint, erzeugen seine zahlreichen bekannten und prägnanten Charakterdarstellungen in insgesamt weit über zweihundert Filmen doch überwiegend den Eindruck von seiner souveränen Selbstbeherrschung und meist recht sparsam dosierten Emotionen in der Darstellung.
Die Verkörperung des alternden, fröhlichen und umtriebigen Naturburschen Milou jedoch, der in Eine Komödie im Mai als flirtfreudiger Nesthocker nach dem Tod seiner Mutter um seinen von Kindheit an angestammten Lebensraum auf dem kleinen Familienweingut in der französischen Provinz fürchten muss, ist ihm auf den ersten Blick nicht einfach zuzutrauen. Michel Piccoli aber überzeugt in diesem opulent angelegten Ensemble-Film mit ungewohnter, erstaunlicher Leichtigkeit in zweierlei Hinsicht: Zum einen dehnt sich sein zuverlässiges Talent als dominante Männerfigur auf zuvor selten repräsentierte Facetten aus, die sich zuvorderst in einer geradezu überströmenden Lebensenergie und -freude äußern. Andererseits gelingt es ihm ganz hervorragend, auch dezent und für alle anderen Figuren förderlich innerhalb einer derart großen Truppe zu agieren, die mit lässigem Charme und bittersüßer Satire den munteren, modrigen Moloch einer Großfamilie abbildet.

Als Madame Vieuzac (Paulette Dubost) eines Tages im Mai während des Kochens von einer finalen Schwäche erfasst wird, sich mit letzter Kraft die Treppe hinaufschleppt und schließlich tot auf dem Sofa zusammenbricht, versammelt sich auf dem idyllisch gelegenen Landsitz allmählich die gesamte Großfamilie, um die alte Dame unter die Erde zu bringen und das Erbe untereinander aufzuteilen. Tendiert vor allem seine Tochter Camille (Miou-Miou) dazu, alles schlichtweg zu verkaufen und den Erlös anteilig umzulegen, protestiert der älteste Sohn Milou (Michel Piccoli) ganz entschieden dagegen, den Familiensitz aufzugeben, fristet er doch nach wie vor hier sein naturnahes, entspanntes Dasein und bildet das Weingut zudem das Zentrum der auseinandergedrifteten Sippe. Zu den familiären Turbulenzen, die sich nun ereignen, gesellen sich zunehmend auch sozialpolitische, denn es ist Mai 1968, und die in Paris tobende Revolte deutet auch in der ländlichen Region auf drastische Veränderungen vielschichtiger Formen hin …

Einen famosen Familienfilm vor markantem zeitgeschichtlichem Hintergrund, der innerhalb der Dramaturgie geschickt über das Medium Radio eingeführt und ausgeführt wird, bevor er vor allem durch einen Pariser Neffen die Trauergesellschaft direkt erreicht, hat Louis Malle mit Eine Komödie im Mai inszeniert. Herrlich schrullige Typen, die so manchen an die eigene Sippschaft erinnern werden, treten hier mit geballter Energie auf und in familiären Machtkämpfen gegeneinander an, bis das ausführliche Beisammensein und die Bedrohung durch die eskalierende politische Situation zu einer spontanen gemeinsamen „Flucht“ mit Kind und Kegel in die Botanik führen. Hier relativieren sich wiederum die Werte der bürgerlichen Sozietät, fallen erneut die präsentablen Masken und erwachen die existenziellen Verzweiflungen, doch steigt auch die Orientierung an schlichten Sicherheiten und Verbindungen, die im Film zuvorderst durch die zahlreichen gemeinsamen Mahlzeiten repräsentiert werden.

Milous heranwachsende Enkeltochter Françoise (ganz zauberhaft gespielt von Jeanne Herry), die gern die klugen, unangenehmen Fragen stellt, seine Vertraute und Haushälterin Adele (Martine Gautier), mit der ihn auch eine erotische Ebene verbindet, sowie die weiteren illustren Frauen und Freundinnen der Familie dominieren das Geschehen, während die männlichen Protagonisten sich eher den weiblichen Reizen und Impulsen unterordnen sowie politisch polemisieren. Allein Milou als liebevoller Großvater, genussvoller Naturbursche und geschickter Stratege in Sachen Lebens- und Liebeskunst wird anfangs in einem Moment der Trauer über den Tod seiner Mutter gezeigt, während die übrige Familie – das Mädchen Françoise ausgenommen – selbst angesichts des ständig präsenten, aufgebahrten Leichnams kaum ein persönliches Wort über die Verstorbene verliert und einzig am Erbe interessiert ist. Doch der Bedeutungslosigkeit, die dadurch der Macht und Wucht des Todes gegenüber entsteht, begegnen Louis Malle und sein Koautor Jean-Claude Carrière mit einem spitzbübischen Kunstkniff, der diesem wunderbaren Film eine dezente surreale Komponente verleiht, die seinen sanften bis spitzen Sarkasmus angenehm mildert: So tot Madame offensichtlich auch ist, nimmt sie sich beizeiten dennoch ganz unspektakulär die Freiheit, die aufgeregten Umtriebe der Ihren gelassen zu betrachten.

Eine Komödie im Mai

Die Entscheidung des französischen Filmemachers Louis Malle, die Hauptrolle eines seiner letzten Filme mit dem damals bereits legendären Grandseigneur des französischen Theaters und Kinos Michel Piccoli zu besetzen, entbehrt nicht eines gewissen Risikos.
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