Ein Chanson für dich (2016)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

„Gegen ABBA zu verlieren, ist keine Schande“, mit diesen Worten wird Liliane (Isabelle Huppert) angekündigt, als sie nach Jahrzehnten erstmals wieder auf einer kleinen Bühne steht. Einst hatte die Sängerin unter ihrem Künstlernamen Laura beim Grand Prix Eurovision de la Chanson gegen eine gewisse Band aus Schweden verloren, danach war es mit ihrer Karriere bergab gegangen. Ein Chanson für dich ist zwar in der Gegenwart angesiedelt, der aktuellen medialen Realität mit ihrem zur Artistenshow verkommenen ESC versperrt er sich jedoch völlig. An den Namen der deutschen Teilnehmerin dieses Jahres erinnert sich ja auch schon niemand mehr. Alle schrieben nur amüsiert über die Jodeleinlagen der Rumänin oder die Anti-Haltung des struppigen Gewinners aus Portugal.

Der Film sehnt sich nach einer längst vergangenen Zeit. Wenn Liliane nach einem langen Tag in der Fabrik – mittlerweile steht sie am Fließband und garniert Pasteten – abends vor dem Fernseher sitzt, scheinen die ewigen Tierdokumentationen und Quizshows ihren gegenwärtigen Zustand zu kommentieren. Gefangen in der Redundanz des Programms und des Alltags, Tag für Tag ein paar mehr Gehirnzellen tot. Liliane – oder eben: Laura – kommt aus der Zeit glitzernder Kulissen, glamouröser Roben, würdevoller Darbietungen melancholischer Liebeslieder. „Sie ist eine Frau mit Klasse“, sagt einmal jemand über sie. Der Regisseur Bavo Defurne beschert dieser Laura ein Comeback, obwohl er im Grunde unentwegt beklagt, dass ihre Art der Vergangenheit angehört. Souvenir, Erinnerung, lautet der französische Originaltitel. Dass er im Deutschen zum schmonzettenhaften Ein Chanson für dich wurde – Ironie auf einer anderen Ebene.

Nun steht Liliane also wieder auf der Bühne. Zum Jubiläum irgendeines Clubs, sie macht das nur einem Freund zuliebe. Und nur unter der Bedingung, dass die Medien keinen Wind von diesem einmaligen Auftritt bekommen. Natürlich kommt es anders: Der Freund, ein junger Boxer namens Jean (Kévin Azaïs), der Liliane beim Aushelfen in der Fabrik als ehemaligen Schlagerstar erkennt, wird zu ihrem Liebhaber und ermuntert sie zum Neuanfang. Dieser erste, vermeintlich einzige Auftritt gehört zu den größten Momenten in Ein Chanson für dich. In einem rot leuchtenden Kleid steht die zierliche Frau im düster beengten Vereinsraum, bewegt elegant die Arme zu ihrem Lied. Wie die Kamera an Isabelle Hupperts Lippen hängt, sie aus der Distanz begehrt, die Scheinwerfer vorbeifahrender Autos im Hintergrund die aufleuchtenden Buntglasfenster zur glamourösen Kulisse adeln, das hat beinahe etwas von den Melodramen Pedro Almodóvars und dem schmeichelnden, aufrichtig liebenden Blick auf seine Frauenfiguren. Später werden Liliane und Jean gemeinsam in der Badewanne sitzen, einander gegenüber in perfekter Symmetrie, wir werden sie bewundern und sie seinen Körper. An keiner Stelle skandalisiert der Film den Altersunterschied der Beziehung, es ist fast zu schön, um wahr zu sein.

Es gibt unbeholfene Szenen in Ein Chanson für dich, vor allem zu Beginn. Szenen, die so überdeutlich die Frustration des immer gleichen Alltagstrotts betonen, dass man beim Zuschauen förmlich die Drehbuchseiten vor sich sieht. Aber Bavo Defurne hat für seine erste internationale Produktion nicht ohne Grund direkt Isabelle Huppert gewonnen. Seine Nostalgie ist kein uninspiriertes, ins Leere laufendes Lechzen nach dem ohnehin Unwiederbringlichen. Zuerst sieht alles ganz nach einem klassischen Melodrama aus: die Musik, die Farben, die exzessiven Überreaktionen der Figuren. Was Ein Chanson für dich von seinen Vorbildern unterscheidet, ihn zu einem modernen Film macht: es ist nicht zu spät. Weder für Jean und Liliane noch für Lauras Comeback. Ganz im Gegenteil: die Geschichte ist ein einziges Gleiten vom Problem zur Lösung, irgendjemand bietet immer einen Gig an oder verfügt über Möglichkeiten, das Publikum lässt sich noch immer von Laura bezaubern und selbst der Zwist der Liebenden regelt sich wie von selbst.

Man kann das dem Film als Unterkomplexität auslegen. Dann verstünde er allerdings nicht so virtuos mit seinen Mitteln umzugehen: Defurne verschwendet keine Zeit darauf, seinen Figuren eine komplexe Psyche anzudichten. Noch ganz im melodramatischen Modus verhaftet, lädt er stattdessen ihre Umgebung mit Bedeutung auf. Tanzende Luftbläschen im Champagner, der sich bei genauem Hinsehen als Brausetablette im Wasserglas vor einer beigen Wand entpuppt. Als Jean zur ersten gemeinsamen Verabredung nicht erscheinen kann, leuchtet das Rot des verschmähten Hummers auf Lilianes Tisch ähnlich einem Mahnmal für die gerade erst entflammten und direkt wieder enttäuschten Hoffnungen. Und am Ende schließen die Türen eines Fahrstuhls sich mit der Eleganz eines Samtvorhangs im Kino.
 

Ein Chanson für dich (2016)

Liliane arbeitet in einer Fleischfabrik und erfüllt ihren stupiden Job mit stoischer Ruhe. Was kaum jemand weiß: Früher war sie mal ein aufstrebender Stern im Musikbusiness und hat sogar mal beim European Song Contest teilgenommen. Davon zeugen aber heute nur noch einige Souvenirs in ihrer Wohnung. Doch dann tritt der 22-jährige Jean in ihr Leben.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen