Egoïste - Lotti Latrous

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Radikale Nächstenliebe

Eine Egoistin ist die Schweizerin Lotti Latrous nun wirklich nicht – auch wenn der Filmtitel diesen Schluss nahe legt und die Porträtierte das selbst von sich behauptet. Das was sie tut, bezeichnet sie selbst als Zwang, als Sucht. Und doch trifft das den Kern der Sache, um die es der Schweizerin geht, nur unzureichend. Denn Zwang und Sucht sind in unserer Vorstellung vor allem verbunden mit all dem Negativen und mit Bildern von selbst verschuldetem Elend und sozialem Abstieg. Im Falle von Lotti Latrous aber verhält sich das alles ganz anders.
Als die 1953 in Dielsdorf in der Schweiz Geborene in Genf den angehenden Nestlé-Manager Aziz Latrous kennen lernte und heiratete, sah es zuerst nach einer ganz normalen Beziehung aus. Es folgte die Geburt der drei gemeinsamen Kinder Sonia, Selim und Sarah und häufige Versetzungen, die die Familie von Jeddah über Nigeria und Kairo bis nach Abidjan im westafrikanischen Staat Elfenbeinküste führten. Lotti Latrous hätte dort das sorgenfreie Leben eines Managergattin führen und sich ausschließlich um die Erziehung der Kinder kümmern können, doch das Elend, das sie immer wieder sah, sorgte dafür, dass es anders kam. Am 1. Februar 1999 eröffnete das Centre Espoir Un – Ambulatorium in Adjouffou, einem Viertel von Abidjan, am 2. September 2002 folgte das Sterbespital Centre Espoir d’Eux, im Februar 2006 wurde schließlich das Centre Espoir Trois, ein Heim für AIDS-Waisen eröffnet. Doch das Engagement von Lotti Latrous forderte auch seinen Preis. Als ihr Mann nach Kairo versetzt wurde, beschloss die Familie, dass Lotti jeweils zwei Monate in Kairo und einen in Abidjan verbringen sollte, um dort ihre Aufbauarbeit fortsetzen zu können. Schnell zeigte sich aber, dass das Centre d’Espoir ihre ganze Kraft erforderte, so dass die Familie nun fast die ganze Zeit des Jahres getrennt lebt und sich nur selten sehen kann. Während Aziz seine Frau auch weiterhin voll und ganz unterstützt, sind bei den Kindern doch manchmal kleine Spuren der Irritation über die Entscheidung ihrer Mutter zu spüren. Doch auch sie wissen, dass Lotti nicht anders kann. Auch wenn man der „Schweizerin des Jahres 2004“ das schlechte Gewissen über ihre Entscheidung gelegentlich noch anmerkt.

Die Geschichte von Lotti Latrous und den von ihr begleiteten AIDS-Kranken steckt voller Emotion, Mitgefühl und ist eigentlich tieftraurig. Vielleicht ist ja gerade das der Grund dafür, warum Stephan Anspichler seinem Film eine skizzenhafte und manchmal beinahe distanzierte Anmutung gegeben hat und immer wieder Szenen mit unerwartetem Humor einstreut – anders würde man die Bilder des Elends wohl kaum aushalten.

Eines ist sicher am Ende dieses Filmes: Sollte Lotti Latrous wirklich eine Egoistin sein, bräuchte es mehr wie diese, um dem vieltausendfachen Elend auf der Welt begegnen und es ein klein wenig lindern zu können. Und vielleicht gelingt es ja gerade durch das Beispiel von Lotti Latrous, dass der Preis für Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe nicht so hoch sein muss wie in ihrem Fall.

Egoïste - Lotti Latrous

Eine Egoistin ist die Schweizerin Lotti Latrous nun wirklich nicht – auch wenn der Filmtitel diesen Schluss nahe legt und die Porträtierte das selbst von sich behauptet.
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