Dunkirk (2017)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Gott des Gemetzels

„Wow“, es beginnt, das ständige Gefühl eines Countdowns: Man hört das nur an ganz expliziten Stellen aufhörende Ticken einer Uhr und Brummen des Basses von Hans Zimmers Synthesizer-Lärm (man könnte auch sagen, dass der Film damit zugepflastert ist) und stürzt in die nach Luft schnappende Wucht eines Überlebenskampfes der über 400.000 in Dünkirchen eingepferchten Briten und Franzosen im Zweiten Weltkrieg. Feindliche Flugzeuge kreisen am Himmel und erschweren die geplante Abreise einiger tausend britischer Soldaten zurück in deren Heimat. Von der beeindruckenden und sehr schweigsamen Eröffnungssequenz an, in der die Kamera dem Soldaten Tommy (Fionn Whitehead) durch den Horror des Küstenortes folgt, gilt es den Adrenalinpegel hochzuhalten.

Das bis zum Anschlag des Formats (der Film kam in sehr vielen Formaten in die Kinos, u.a. auf 70mm) ausgereizte grading der Wasseroberfläche (man fragt sich, wieso man Wasser so bearbeiten muss, als wäre es digital, wenn man sich so für analoges Kino einsetzt), das Gefühl für die Wucht von Bewegungen, Verzögerungen und Geräuschen, arbeiten auf eine besonders intensive Erfahrung der Geschehnisse hin. Besonders schön lässt Nolan dabei das Meer und die Wolken als Kinoereignisse zum ein oder anderen großen Moment werden. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass ein Flug durch Wolken eine solche Kraft entfalten kann?

Dabei fokussiert sich Nolan auf vier unterschiedliche Hauptplots: Zum einen auf eben jenen von Tommy, der gemeinsam mit einem lange Zeit stummen Begleiter versucht, auf eines der nach England fahrenden Boote zu gelangen. Außerdem auf den Piloten Farrier (Tom Hardy), der versucht aus der Luft bei der Flucht zu helfen und dem einige transzendierende Augenblicke gegen Ende des Films gehören, und auf Mr. Dawson samt seiner äußerst jungen Crew, die aus Zivilcourage mit einem privaten Boot von England nach Dünkirchen fahren, um überall zu helfen, wo es Hilfe braucht. Und schließlich auf die Kommandobrücke bei Shakespeare oder auch Kenneth Branagh, der als Offizier so einiges zu philosophieren weiß, aber eigentlich nur eine dieser typischen Nolan-Figuren ist, die dafür da ist, dass man bei all dem Tempo zwischendurch erzählt bekommt, um was es gerade geht.

Die Abreise aus Dünkirchen gestaltet sich äußerst schwierig und brutal. Angeblich hat Nolan seinem Team Terrence Malicks The Thin Red Line als Inspiration gezeigt und obwohl ein Vergleich sehr schwer anmutet, weil die Filmemacher sehr unterschiedliche Haltungen zum Krieg und zum Kino offenbaren, treffen sie sich doch im Fehlen eines klaren Protagonisten. Auch die Nazi-Falle umschifft Dunkirk, in dem er den Feind abstrahiert. Dadurch muss sich der Film die Frage nach der Repräsentation des „Bösen“ nicht stellen, was den auf Affekt zielenden Genremanövern gut tut.

Dunkirk ist in vielerlei Hinsicht mehr ein Nolan-Film als ein Kriegsfilm. Das heißt, dass alles äußerst präzise, fast klinisch hinarbeitet auf überwältigende, bisweilen bombastisch-sinnliche Erfahrungen und Spannung und darüber hinaus sehr wenig Perspektive auf den Krieg oder seine Figuren gelegt wird. Am deutlichsten zeigt sich das, als Sounddesign und Musik an einer Stelle tatsächlich wagen, den Dialog zweier Offiziere zu übertönen. Um was es geht, ist weitaus weniger wichtig, als dass es weitergeht. Ein ähnliches Verhältnis tut sich zwischen den Bildern auf. Nolan dynamisiert diese ständig. So wird ein eigentlich ruhiges Bild eines Mannes auf seinem Boot in epische Relation gesetzt, weil es im selben Rhythmus geschnitten und musikalisch untermalt wird, wie das vorangegangen Bild eines abstürzenden Fliegers. Dieses Vorgehen, das Nolan seit The Prestige eigentlich immer anwendet, ist sein großer inszenatorischer Zaubertrick. Man hat das Gefühl, dass die Aufmerksamkeit des Filmemachers immer an einem anderen Ort ist als an dem, den man gerade im Bild sieht. Dadurch entsteht ein Gefühl von Präsenz und Relevanz eines jeden Bildes. Das wirkt ein wenig wie die Anti-These zu sowjetischen Montagetheorien, denn nicht welche Bilder gegeneinander geschnitten werden, ist hier entscheidend, sondern dass Bilder gegeneinander geschnitten werden, egal warum. Das macht Nolan zu einem unheimlich aufregenden Filmemacher, wenn man nicht nachdenken will.

Denn eine wirkliche Moral oder Haltung außer einem etwas merkwürdig anmutenden Patriotismus (man muss kämpfen für sein Land!) und einer mit diversen Nahaufnahmen untermauerten Hymne an Heimat und Menschlichkeit gibt es nicht. Der Heimat- und Heimkehrfaktor wird allerdings wieder sehr mitreißend und emotional inszeniert. Wie kaum ein Zweiter Blockbuster-Regisseur versteht es Nolan, aus einer hypnotischen Spannung in einen tränendrüsendrückenden Pathos zu kommen. Dazu ist dem Filmemacher kein Mittel zu billig, solange er es mit einem Millionenbudget aufwerten kann.

Eigentlich fühlt sich der Film an wie ein Trailer in Spielfilmlänge. Das liegt daran, dass Nolan seine eigene Methode gemeinsam mit seinem Team hier auf eine Spitze, fast möchte man diese eine abstrakte Essenz nennen, treibt. Alles verdichtet sich in aufeinander zulaufenden und dennoch parallelen Bewegungen, es geht von einer Erwartungshaltung in die nächste. Dabei ist nie ganz klar, ob die Ereignisse gleichzeitig passieren, man etwas gesprungen ist in der Zeit oder es sogar Wiederholungen aus unterschiedlichen Perspektiven gibt. Ein Kino der Attraktionen im Krieg. Durch die Bewegungen, die eigentlich immer nur in andere Bewegungen führen, fühlt man sich irgendwann so, als würde sich gar nichts bewegen. Man kann nur schauen und staunen oder aber man fragt sich, was das eigentlich alles soll. Inception im Aufwachmodus, nur dass fantasievolle, pseudo-philosophische Traum- und Zeitstudien mit Raumstrukturen (Luft, Wasser, Land) und historischem Realismus ersetzt werden. Einzig die höhere Emotionalität und zunehmende Nähe erlaubt Dunkirk eine Steigerung in der zweiten Hälfte. Dann gibt es deutlich mehr Nahaufnahmen, die zum einen versuchen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, und zum anderen die Paranoia zu erhöhen. Das mit der Menschlichkeit ist so eine Sache. Eigentlich sehr interessante Nebenplots wie jener des geretteten Piloten (Cillian Murphy), der paralysiert auf dem Boot von Mr. Dawson landet, werden nicht wirklich ausgearbeitet, sie wirken fast wie Störelemente und letztlich bleibt von ihnen nur der Ansatz, nie aber wirkliches Kino. Nein, die Helden dieses Kinos, das sind nicht die Leidenden, das sind die Rennenden, sich immerzu Bewegenden.

Der Realismus verlangt dann auch ganz den Konventionen des Kriegsfilmgenres folgend ein Eintauchen in diese Welt. Trotz der abstrakten Tendenz will Nolan dieses sehr problematische Authentizitätsgefühl nicht verneinen. Man spürt, mit welcher Lust hier vor allem an den Tönen geschraubt wurde. Wie kürzlich bei Son of Saul, nur etwas weniger verwerflich, kann man sich schon fragen, ob da wirklich Menschen sitzen, die dem Zuseher das Gefühl vermitteln wollen, dass er jetzt nachempfinden kann, wie es denn war in Dünkirchen. Was genau würde das vermitteln? Nicht nur, dass dieser auf Erfahrung statt Imagination oder Perspektive gerichtete Ansatz nie ganz aufgeht, egal wie aufwendig man ihn herstellt, entsteht eine Identifikation, weniger mit den Figuren, als mit den Bewegungen des Krieges. Man will diese Flieger hören, man will, dass es kracht, man will, dass alles brennt. Schon klar, dass ein Blockbuster heute so überwältigend arbeiten muss, aber eigentlich auch ziemlich beschränkt und daneben. Wie man es anders lösen könnte, zeigt zum Beispiel der grandiose Stummfilm Lucky Star von Frank Borzage. Dort gibt es nur eine Handvoll Bilder des Krieges, allesamt leicht abstrahiert und unwirklich. Aber genau dadurch machen sie dem Zuseher klar, dass es eine Distanz gibt, die noch viel stärker bewusst macht, was Krieg bedeuten könnte.

Der Titel dieses Textes ist also nicht nur eine Anspielung auf die Dramaturgie des Films, bei dem ein Ort ähnlich dem gleichnamigen Theaterstück und dem Film von Roman Polanski nur schwer oder gar nicht verlassen werden kann, sondern auch eine Anspielung auf den Regisseur, der einen historischen Krieg hier gleich eines Spielbretts für sein Überwältigungskino missbraucht. Vielleicht ist eine ethische Frage an den Film verfehlt, vielleicht ist es aber auch verfehlt von Nolan, einen Kriegsfilm zu machen. Manchmal ist ein „Wow“ nicht genug.
 

Dunkirk (2017)

„Wow“, es beginnt, das ständige Gefühl eines Countdowns: Man hört das nur an ganz expliziten Stellen aufhörende Ticken einer Uhr und Brummen des Basses von Hans Zimmers Synthesizer-Lärm (man könnte auch sagen, dass der Film damit zugepflastert ist) und stürzt in die nach Luft schnappende Wucht eines Überlebenskampfes der über 400.000 in Dünkirchen eingepferchten Briten und Franzosen im Zweiten Weltkrieg.

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Meinungen

Eke · 19.04.2021

"Dunkirk" als einer jener hochdotierten Film beruht zu fünfzig Prozent nicht auf wahren Begebenheiten.
Es beginnt damit, dass die Stuka Ju87 Bombenteppiche legen konnten, diese ganzen Serien von Einschägen am Nordseeufer sind einfach nur unwahr. In diesem Zusammenhang geht es gleich weiter - auch ein stämmiger Hardy passte schlecht in ein Cockpit einer Spitfire und es gab diese Flugzeuge der RAF tatsächlich am Dünkirchener Himmel eigentlich gar nicht. Lest mal die richtige Geschichten. Die RAF hatte damals ganz andere Probleme und Jagdflieger gab es dort so gut wie gar nicht. Das ist eine sowas von dumme Lüge in Filmform, dass der Rest dagegen auch noch abstinkt. Man muss echt die Kirche im Dorf lassen, auch wenn es nun um Heldenhaftigkeiten gegen die Deutschen im 2. WK gehen soll, aber an den echten Vorkommnissen vorbei zu filmen, das ist schon arg. Und man bekommt dafür auch noch Auszeichnungen.... Für Blödsinn.

Martin Zopick · 25.02.2020

Eine der schwächsten Verfilmungen des Wunders von Dünkirchen. Die eingeschlossene britische Armee wird in einer Nacht und Nebelaktion in kleinen Fischerbooten vom Kontinent auf die Insel zurückgeholt. (Operation Dynamo)
Doch es gibt weder ein Gesamtkonzept noch detaillierte Einzelaktionen, die dem Zuschauer einen zusammenhängenden Eindruck von dem an sich äußerst gewagten Unternehmen vermitteln. Wer mit der historischen Situation nicht vertraut ist – und ich zähle mal Regisseur und Drehbuchautor Christopher Nolan dazu – schaltet nach kurzer Zeit ab, weil er aus dem verwirrenden Durcheinander nicht schlau wird. Wer sich auskennt, sucht verwundert nach Versatzstücken aus der Militärgeschichte. Da laufen Soldaten am Strand entlang, Zivilisten schlagen sich mit sonderbaren Typen wie Cillian Murphy herum, der einen zitternden Soldaten spielt und der durchs Bild irrlichtert oder in einer Ecke kauert ohne Sinn und Ziel. Mark Rylance schippert mit seinem Kahn ständig durch die Gewässer und keiner weiß, wohin der will. Der aufgegriffene, zitternde Soldat bringt aus Versehen auch noch einen seiner Retter um. Der Gipfel an Sinnlosigkeit ist aber Kenneth Branagh, der als leitender Commander den erfreut Dankbaren spielt und der mit seinem Blick ständig den Horizont nach britischen Flugzeugen absucht und auch noch findet. Da kann sein stolzer Nationalismus dann hier fröhliche Urstätt feiern. Für Jugendliche ist der Film völlig ungeeignet.
Dabei sinkt aus unerklärlichen Gründen ein größeres Schiff und Soldaten schwimmen nach Dünkirchen zurück oder sonst wo hin. Andere kauern sich am Pier zusammen.
Den Helden der Anfangsphase Tommy (Fionn Whitehead) haben wir inzwischen ganz aus den Augen verloren. Dafür wird ein britischer Pilot gefangen genommen und die Heimatpresse begrüßt jubelnd ihre Helden. Vereinzelt.
Den Film anzuschauen ist sinnlos vertane Zeit, denn es geht hier doch wohl um mehr als umherlaufende Soldaten, Spielzugpiloten, die in langweiligen Luftkämpfen im Einsatz sind und brennende Schiffe, die munter vor sich hin brennen. Selbst der grottenschlechte Streifen mit dem jungen Belmondo ist noch besser als der hier. K.V.