Die Nordsee von oben

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Mit den Augen eines Vogels

Immer wieder erinnern die Luftaufnahmen an einen lebenden Organismus: Die Arme der Priele erscheinen aus der Luft betrachtet wie ein Geflecht aus Venen und Arterien und die Inseln rollen sich in der Nordsee zusammen wie Embryonen im Mutterleib. Von oben betrachtet ist die deutsche Nordseeküste ein bizarres Gebilde von beinahe überirdischer Schönheit. Der Film Die Nordsee von oben eröffnet nun ganz ungewöhnliche Einblicke in eine Landschaft, die man so wohl noch nie gesehen haben dürfte.
Genau diese Empfindung des bislang Ungesehenen, das seine volle Wirkung erst durch die Distanz und den ungewöhnlichen Blickwinkel entfaltet, bewog auch die beiden Filmemacher Silke Schranz und Christian Wüstenberg dazu, diesen Film überhaupt erst in Angriff zu nehmen. Der Impuls hierfür kam von einer zehnteiligen Dokumentationsreihe mit dem Titel Deutschlands Küsten, die im Oktober 2010 auf ARTE ausgestrahlt wurde. Die hierbei immer wieder eingestreuten Luftaufnahmen ließen das Meer und die Küstenlandschaft so bizarr, exotisch und aufregend schön aussehen, dass sich Christian Wüstenberg, der selbst von der Nordsee stammt, und Silke Schranz darum bemühten herauszufinden, wer diese Aufnahmen hergestellt hatte. Einige Tage und Telefonate später hatten sie herausgefunden, dass tatsächlich noch 40 Stunden nicht verwendetes Material existierte. Die Hamburger Filmproduktion Vidicom hatte das Material mit der extrem empfindlichen „Cineflex“-Kamera gedreht, die als weltweit bestes Hubschrauber-Kamerasystem gilt. Und: Peter Bardehle, der Chef von Vidicom war extrem angetan von der Idee, aus dem gesamten Material einen kinotauglichen Dokumentarfilm anzufertigen.

Der Flug über das Weltnaturerbe Wattenmeer beginnt im äußersten Westen auf der Insel Borkum und bei Deutschlands westlichstem Seehafen Emden und folgt dem Verlauf der Küstenlinie bis zu Deutschlands beliebtester Ferieninsel Sylt. Dabei gelingen der Helikopterkamera durchweg atemberaubende Bilder, die die Küste manchmal fast schon wie eine Filmkulisse aus einem Fantasy-Märchen erscheinen lassen. Vor allem sind es die landschaftlichen Strukturen, Wasseradern, die das Wattenmeer durchziehen, die Salzwiesen oder die vielen Inseln (bewohnte ebenso wie unbewohnte) sowie das vielfach strukturierte Glitzern des Meeres, die dem Film seine unbestritten kontemplative Wirkung geben.

Während die Kamera stets in der Luft bleibt, kehrt zumindest der Off-Kommentar mit unverkennbar norddeutschen Dialektfärbung und manchmal etwas zu locker-schnoddrigen Tonfall immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Um die sprichwörtliche Bodenhaftung nicht zu verlieren, springt der Erzähler gerne zu Menschen, die gerade bei ihrer Arbeit zu sehen sind —  wie etwa dem Krabbenreusenfischer Erhard Djuren, dem Deichschäfer Harald Nordmann oder dem Postboten Knud Knudsen, der die Hallig Süderoog per Fußmarsch durchs Watt mit Zeitungen und anderen Sendungen versorgt. Die Exotik dieser Berufe reflektiert zwar nicht gerade den Durchschnittsküstenbewohner, sondern zeichnet vor allem ein exotisches Bild des Lebens an der Nordseeküste – wie sich überhaupt der Film so ausnimmt, als ziele er vor allem darauf ab, den Tourismus kräftig anzukurbeln. Dennoch gibt es auch immer wieder kritische Zwischentöne, die immer wieder darauf hinweisen, wie fragil die Balance zwischen der Natur und dem Eingreifen des Menschen ist, die man beinahe überall beobachten kann.

Bislang war die Vogelperspektive vor allem internationalen Großproduktionen wie Die Erde von oben oder Home (beide von Yann Arthus-Bertrand) vorbehalten. Dank der grandiosen Bilder der Cineflex-Kamera gelingt den beiden Filmemachern nun mit Die Nordsee von oben ein Film gelungen, der zumindest teilweise durchaus mit den viel aufwändigeren Produktionen internationalen Zuschnitts mithalten kann. Trotz einiger Abstriche bei der Musik und dem Off-Kommentar sollte dieses Experiment zumindest an der Nordseeküste in den Seebädern für volle Häuser sorgen. Zumal die Botschaft, dass die einzigartige Landschaft des Wattenmeeres unserer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, bestens in die Zeit eines wachsenden ökologischen Bewusstseins passt. Und mit dem Material, das noch über die Ostsee vorhanden sein dürfte, kann man durchaus vermuten, dass bald ein neues Projekt mit dem Titel Die Ostsee von oben folgt. Die Fremdverkehrsvereine der Region dürfte das sicher freuen. Eine bessere Werbung für einen Urlaub an den deutschen Küsten gibt es nämlich kaum.

Die Nordsee von oben

Immer wieder erinnern die Luftaufnahmen an einen lebenden Organismus: Die Arme der Priele erscheinen aus der Luft betrachtet wie ein Geflecht aus Venen und Arterien und die Inseln rollen sich in der Nordsee zusammen wie Embryonen im Mutterleib. Von oben betrachtet ist die deutsche Nordseeküste ein bizarres Gebilde von beinahe überirdischer Schönheit.
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Meinungen

MaHi · 17.01.2024

Ein sehr, sehr toller Film, gestochen scharfe Aufnahmen, für mich ein einzigartiges Kunstwerk. Zudem finde ich die musikalische Untermalung sehr gelungen. Ein Beispiel: der dumpfe Ton bei der Szene mit der Ölplattform im "Niemandsland" des Wattenmeeres, nachdem der Sprecher meinte, dass die Verantwortlichen bereits signalisiert hätten, Genehmigungen zu erteilen für die Errichtung weiterer Bohrinseln im besagten Gebiet ...

Freddy · 28.02.2020

Der Film ist wirklich sehr gut gelungen und sehr sehenswert, gerade auch wegen seiner kritischen Töne. Allerdings muss sich das Team selbst auch eine Kritik gefallen lassen: wie kann man einen solchen Film machen, bei dem Juist und Norderney komplett fehlen??? Das hat zumindest mich sehr geärgert!

Herbie · 09.09.2011

Der Film ist spitze. Schade ist nur, das man danach so wenig behält. Dafür wäre eine
DVD o.ä.wenn man sie kaufen könnte ein privater Leckerbissen. Denn die würde sich bestimmt jeder mehrmals zu Gemüte führen. Ich vergleiche diesen Film mit den I-MAX Filmen die früher in Bochum zu sehen waren.

JH Bruhn · 24.07.2011

Wunderschöne Aufnahmen, die das Herz berühren und für die Schönheit und Schützenswürdigkeit der Natur öffnen - und die hat unseren Schutz und unsere Achtung nach all den Jahren/Jahrhunderten des Ausbeutens wirklich nötig und verdient! Die Kommentare des Sprechers waren gut plaziert, ohne den mahnenden Zeigefinger so sehr zu heben, dass er den Sinn für das Schöne überschattete.
Gefallen hat mir auch die gelungene Mischung aus Landschaften und "Originalen", die natürlich nicht dem "Durchschnitts"-Bewohner entsprechen, aber die aufgrund der Einzigartigkeit der Landschaft eben so geworden sind. Unterstrichen wird dieser Effekt noch durch den typisch norddeutschen Dialekt des Sprechers.
Warum müssen wir Menschen immer vergleichen und können uns nicht einfach unvoreingenommen an Schönem erfreuen? Mir hat der Film einfach super gefallen, und ich werde ihn mir auch noch ein zweites Mal ansehen.

HGBARB · 21.06.2011

Hallo zusammen, es waren beeindruckende Aufnahme / Darstellungen. Wer etwas für tolle Naturbilder übrig hat, der muss sich den Film ansehen.

MfG
HGBARB

Karina-Theresa · 14.06.2011

Da bin ich ja mal gespannt, ob dieser Film wirklich mit Filmen wie "Home" mithalten kann. Wobei, wenn dort wirklich authentische Bewohner unserer Nordseeküste wie "Knud Knudsen" vorkommen, kann das ja nur was werden ;-)
Auch wenn er nicht so gut, wie große Produktionen sein sollte, finde ich es dennoch gut, dass es solche Filme gibt - Sie öffnen für viele Menschen die Augen. Einerseits hinsichtlich der Schönheit unserer Natur, anderseits hinsichtlich ihrer Schutzbedürftigkeit.

Ich bin auf jeden Fall gespannt und werde mir diese Naturdoku auf jeden Fall anschauen!