Die Milchstraße

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Im religiösen Spannungsfeld zwischen Himmel und Hölle

Eine Pilgerreise nicht nur von Paris ins spanische Santiago de Compostela, sondern geradewegs durch die Abgründe und Höhenflüge christlich-religiöser Diskurse hat Luis Buñuel mit diesem Film inszeniert, der den Zuschauer zwischen sakraler Ernsthaftigkeit und komischer Satire in ein Universum der Zeichen und Wunder entführt. Die Milchstraße von 1969 stellt eine der grandiosen Zusammenarbeiten Luis Buñuels mit dem französischen Drehbuchautoren Jean-Claude Carrière dar, die sich durch abgefahrene Ideen und aberwitzige dramaturgische Wendungen auszeichnet. In Andeutungen tauchen hier bereits Sequenzen von Bildern und Themen auf, die sich später innerhalb der folgenden Kooperationen der beiden Filmschaffenden bei Der diskrete Charme der Bourgeoisie / Le charme discret de la bourgeoisie (1972) und Das Gespenst der Freiheit / Le fantôme de la liberté (1974) noch vertieft haben.
Als arme Pilger von Paris nach Santiago de Compostela unterwegs begegnen der ältere, gläubige Pierre (Paul Frankeur) und der in religiösen Fragen zunächst eher nüchtern denkende Jean (Laurent Terzieff) auf einer einsamen Landstraße in Frankreich einem seltsamen Mann in einem Umhang (Alain Cuny), den sie um ein Almosen bitten. Dieses gewährt er auf kauzige Art großzügig nur Pierre, und bevor er seinen Weg fortsetzt, spricht er eine unverständliche Prophezeiung aus: Die beiden Pilger werden Kinder mit einer Hure zeugen, welche die Namen „Du bist nicht mein Volk“ und „Keine Barmherzigkeit mehr“ tragen werden. Damit eröffnet ein raum-zeitlich absurdes Territorium der christlichen Dogmen und Historie, das die wandernden Männer ebenso wie den Zuschauer unweigerlich in einen verwirrenden Sog religiöser Imaginationen und Debatten zieht.

Ob Kellner in einem Restaurant, Kinder bei einer Schulaufführung, ein bei Widerspruch ungnädiger Priester (François Maistre), der Marquis de Sade (Michel Piccoli) oder natürlich auch Jesus (Bernard Verney) selbst: In Die Milchstraße sind sämtliche Protagonisten permanent in christliche oder aber atheistische Zusammenhänge und Gespräche verstrickt, die einen Quer- und Längsschnitt durch die unterschiedlichsten Themen der Bibel bilden, deren Wortgewalt sich in den Mono- und Dialogen der Figuren widerspiegelt. Ein offensichtlich stigmatisierter Junge am Straßenrand, ein Duell über hehre Begriffe wie den freien Willen, aufrichtiges Ketzertum, Erscheinungen und Wunder, die Jungfrau Maria sowie harmonische Szenen tiefer, warmer Religiösität – all dies lässt Regisseur Luis Buñuel in episodenhafter Anordnung eingebettet in unzählige Referenzen auf den Zuschauer niederprasseln.

Die Milchstraße, dessen Titel sich als kosmische Entsprechung auf den so genannten Jakobsweg nach Santiago de Compostela bezieht, trumpft dermaßen mit biblisch-religiösen Inhalten und Verweisen auf, welche die unterschiedlichsten Positionen und Glaubenshaltungen repräsentieren, dass die mitunter beißende Kritik an den Dogmen der katholischen Kirche sich innerhalb eines geschlossenen, filmischen Universums vollzieht, in dem selbst die größte Absurdität zwischen Himmel und Hölle als Selbstverständlichkeit erscheint. Ein großartiger, gleichermaßen komischer wie tiefsinniger Film, der jede noch so schräge Argumentation in Glaubensfragen in ihrer natürlichen Berechtigung betrachtet und somit letztlich dem allzu menschlichen Bedürfnis, sich in einer Welt der vagen Beliebigkeiten an das System einer überirdischen Allmacht zurückzubinden, ein geradezu barmherziges Verständnis entgegenbringt.

Die Milchstraße

Eine Pilgerreise nicht nur von Paris ins spanische Santiago de Compostela, sondern geradewegs durch die Abgründe und Höhenflüge christlich-religiöser Diskurse hat Luis Buñuel mit diesem Film inszeniert, der den Zuschauer zwischen sakraler Ernsthaftigkeit und komischer Satire in ein Universum der Zeichen und Wunder entführt.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen