Der Tag bricht an

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Ein Mann hat gemordet

Bedrohlich, warnend tönt die Musik von Maurice Jaubert auf, noch bevor das erste Bild zu sehen ist, und es sind die besonders eingängigen, später durchgängig milden, geradezu karikierenden Kompositionen des früh verstorbenen französischen Filmmusikers, die der melancholischen Stimmung von Der Tag bricht an ihre ganz besondere Note verleihen. Ein kurzer Text beschreibt eingangs den aktuellen Stand des Films, beginnend mit „Ein Mann hat gemordet.“ Doch die einleitenden Worte sind gar nicht notwendig, denn die prägnanten ersten Szenen des Schwarzweißfilmes von Marcel Carné aus dem Jahre 1939 klärt rasch die Umstände der Rahmenhandlung dieser tragischen Liebesgeschichte, die überwiegend in Rückblicken erzählt wird.
Während ein blinder Mann mit seinem weißen Stock das düstere Treppenhaus eines Pariser Mietshauses hinaufsteigt, taumelt aus einem Zimmer in der obersten Etage ein Mann, offensichtlich verwundet, strauchelt, stürzt die Stufen hinunter und landet tot vor den Füßen des Blinden, der um Hilfe ruft: „Irgendjemand ist gefallen.“ – Ein Satz, der noch häufiger nachhallt. Anwohner erscheinen, spekulieren wild und verfolgen gespannt den Auftritt zweier Polizisten, die energisch an die Tür des Arbeiters François (Jean Gabin) klopfen, bei dem der Tote zu Gast war. Doch François öffnet nicht jetzt und nicht später, als ein schießwütiges Polizeiaufgebot anrückt, sondern verbarrikadiert sich mit seinen Erinnerungen in seinem Zimmer.

Die Blumenverkäuferin Françoise (Jacqueline Laurent) schwärmt kräftig für den älteren Hundedompteur Valentin (Jules Berry), der in einem Varieté auftritt und gerade den Laufpass von seiner Kollegin Clara (Arletty) bekommen hat, als sie François begegnet, der sich rasch in sie verliebt. Bald entwickelt sich eine ungünstige, letztlich folgenschwere Konstellation: Valentin will Clara zurückerobern, die allerdings mit François eine Affäre begonnen hat und fortsetzen will, während François Françoise liebt, die aber an Valentin hängt, der François mit der Lüge konfrontiert, er sei Françoises Vater. Doch dann schließen Françoise und François den Pakt, Clara und Valentin nicht wiederzusehen und zusammenzubleiben.

Durchsetzt mit gehaltvollen, mitunter zynischen Dialogen von Jacques Prévert über das derbe, unwegsame Dasein ist Der Tag bricht an ein schwermütiges, schattenreich inszeniertes Drama über die bittersüße Sehnsucht zweier Waisen nach inniger, bergender Zweisamkeit, die hier als Ausweg und Ziel einer ansonsten sinnentleerten, eintönigen Existenz erscheint. Im Grunde ereignet sich ein psychologisch aufgeladenes Kammerstück zweier unterschiedlicher Männer um die Präferenz von Werten, die in der Begegnung mit Frauen zum Tragen kommen – Valentin als der verschlagene, sadistisch veranlagte Spieler, François als der aufrichtige Arbeiter, der von der großen Liebe und einer eigenen Familie träumt.

Als französischer Spielfilm, der sozusagen am Vorabend des Zweiten Weltkriegs im Juni 1939 in Paris uraufgeführt wurde, transportiert Der Tag bricht an zwar weniger direkte politische, als vielmehr zahlreiche gesellschaftliche Aspekte, die sich in der ausführlichen, signifikanten Darstellung der Nachbarschaft als soziales Sprachrohr manifestieren. Nichtsdestotrotz wird vor allem das Ende des Films aus historischer Sicht als symbolischer Abgesang auf die Front populaire gedeutet, wie die Dokumentation Letzte Aufwallung der Volksfront von Dominique Maillet, die als Extra auf der DVD mit der restaurierten und kompletten Fassung des Films enthalten ist, ausführlich thematisiert, die auch Marcel Carné als Filmemacher porträtiert.

Während des Zweiten Weltkriegs wurden die Filme von Marcel Carné von den deutschen Besatzern verboten, was ihn nicht daran hinderte, Der Teufel gibt sich die Ehre / Les visiteurs du soir (1942) und Kinder des Olymp / Les enfants du paradis (1945) zu realisieren, wobei Letzterer als sein Meisterwerk gilt. Doch Der Tag bricht an mit seinen starken Bildern und seinem so bezeichneten poetischen Realismus, der hier visuell wie verbal konsequent zum Ausdruck kommt, markiert nicht minder die Filmkunst des Regisseurs, der hier nach einer Unterbrechung bei Hôtel du Nord (1938) erneut mit seinem Drehbuchautor Jacques Prévert zusammenarbeitete und die Intensität von Hafen im Nebel / Le quai des brumes (1938) gelungen fortführt.

Der Tag bricht an

Bedrohlich, warnend tönt die Musik von Maurice Jaubert auf, noch bevor das erste Bild zu sehen ist, und es sind die besonders eingängigen, später durchgängig milden, geradezu karikierenden Kompositionen des früh verstorbenen französischen Filmmusikers, die der melancholischen Stimmung von „Der Tag bricht an“ ihre ganz besondere Note verleihen. Ein kurzer Text beschreibt eingangs den aktuellen Stand des Films, beginnend mit „Ein Mann hat gemordet.“
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