Der Strom

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Kindheit und erste Liebe am Ganges

Seinen ersten Farbfilm drehte der französische Regisseur Jean Renoir 1951 in Kalkutta – für den Sohn eines berühmten Malers eine ganz besondere künstlerische Herausforderung, die meisterhaft gelingt. Der Strom / The River, der den Internationalen Preis der Filmfestspiele von Venedig gewann, entstand nach dem gleichnamigen Roman von Rumer Godden aus dem Jahre 1946. Die englische Schrifstellerin, die die ersten vier Jahrzehnte ihres Lebens in Indien verbrachte, verfasste auch gemeinsam mit dem Regisseur das Drehbuch zum Film, der immer wieder kulturelle Aspekte des Landes in wunderschöne Bilder umsetzt und mit den sozialen Gegebenheiten ebenso wie mit den Befindlichkeiten der drei heranwachsenden jungen Frauen für die damalige Zeit bemerkenswert respektvoll umgeht.

In der britischen Familie, die sich im indischen Bengalen am Ganges niedergelassen hat, dominiert deutlich die Weiblichkeit: Neben dem Vater (Esmond Knight) gibt es noch den kleinen, umtriebigen Sohn Bogey (Richard R. Foster), während sich die übrige kinderreiche Schar aus Mädchen verschiedenster Altersstufen zusammensetzt. Die Älteste ist die gerade heftig pubertierende Harriet (Patricia Walters), die engagiert ihren literarischen Ambitionen nachgeht und ansonsten die üppig vorhandene Zeit am liebsten mit ihren Freundinnen Valerie (Adrienne Corri) und Melanie (Radha) aus der Nachbarschaft verbringt, die nur wenig älter als sie selbst sind. Während Valerie eine eher unbekümmerte Natur ist, beschäftigt sich die nachdenkliche Melanie, die gerade erst nach Indien zurückgekehrt ist, oft quälend mit der Frage, welchen Platz sie als Tochter einer Inderin und eines Briten in der Gesellschaft einnimmt.

Es ist ein friedliches, beschauliches Leben in der kleinen Gemeinde, das vom Alltag der Jutefabrik bestimmt wird, die der Vater der Familie leitet. Eines Tages besucht der kriegsversehrte ehemalige US-amerikanische Offizier Mr. John (Arthur Shields) Melanies Vater, und mit seinem Erscheinen gerät das Leben der Mädchen aus dem Gleichgewicht, denn er gefällt sowohl Harriet, Valerie als auch Melanie auf Anhieb, und alle drei umschwärmen ihn mit der ungestümen Art ihrer Jugend, die das erste Mal den schwindelnden Abgrund der Liebe spürt und unbeholfen austestet. Den verbitterten Mann, der mit dem Verlust der Funktion eines Beines nur schwer zurechtkommt, stürzen diese hitzigen Attacken ebenfalls in ein Wechselbad der Emotionen, und er kann vor allem Valeries direkter Werbung kaum widerstehen. Doch dann geschieht eine Katastrophe, die den Fokus der Geschichte verschiebt: Der kleine Bogey kommt beim Spielen im Busch zu Tode, und Harriet macht sich große Vorwürfe, nicht ausreichend auf ihren kleinen Bruder geachtet zu haben …

Auf beeindruckend einfühlsame Weise transportiert Der Strom vor dem schlichten wie prächtigen Szenario des Lebens am Ganges die stark emotional geprägten Vorstellungswelten junger Mädchen, die im Zuge der ersten Liebeskeimungen der drängenden Frage nach der eigenen Identität ausgesetzt sind. Dass dabei die Imaginationen und Träume einen weitaus größeren Stellenwert einnehmen als der tatsächliche Wunsch nach ihrer Verwirklichung, ist ein signifikantes Charakteritikum dieser Entwicklungsphase, das angesichts der aktuellen Diskussionen um frühreife Teenager nur allzu häufig unberücksichtigt bleibt. „Ich hab die Wirklichkeit nicht gewollt!“ – dieser Ausruf von Valerie nach dem doch so heftig ersehnten ersten Kuss von Mr. John verdeutlicht dieses Phänomen treffend und stellt zugleich eine Absage an die als so wunderbar imaginierte Nähe zu einem Mann zu Gunsten der vertrauten Beziehungen zu den Freundinnen dar, deren vereintes Schwärmen sie einer letztlich doch unbehaglichen Intimität mit dem Objekt des Begehrens vorzieht. Doch es wird ihr sogleich bewusst, dass diese wohlige Zeit für immer vorüber ist.

Die gängige Metapher vom Fluss als Sinnbild für die unweigerlich geradlinigen Bewegungen der menschlichen Existenz im Strom der Zeit findet hier eine äußerst gelungene, ambivalente Umsetzung, was sich vor allem in den unterschiedlichen Haltungen der Protagonisten zum Tod des kleinen Bogey widerspiegelt und interessante Perspektiven andeutet. Von der ersten Sequenz an installiert Jean Renoir das Motiv der Malerei in die Dramaturgie, deren Figuren sorgfältig und vielschichtig gezeichnet werden, eingefasst in die ausdrucksstarken Bilder, die rasch eine Atmosphäre der Vertrautheit und des Wohlbefindens verströmen. Am Ende der Geschichte, die von der sanften Stimme der nunmehr erwachsenen Harriet als Erzählerin begleitet wird, steht die Geburt eines weiteren Familienmitglieds – natürlich ein Mädchen –, und dieses Ereignis lässt sogar das zuvor brennende Interesse an dem nunmehr abgereisten John abkühlen und verortet die jungen Frauen erneut versöhnlich in ihrer konkreten Lebensrealität – ein Finale, das die philosophischen Betrachtungen dieses ansprechenden Films zu einer ganz bezaubernden Synthese bringt.
 

Der Strom

Seinen ersten Farbfilm drehte der französische Regisseur Jean Renoir 1951 in Kalkutta – für den Sohn eines berühmten Malers eine ganz besondere künstlerische Herausforderung, die meisterhaft gelingt.

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