Der Sohn der Anderen

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Geliebter Feind

Zwei Säuglinge, die bei ihrer Geburt in der Klinik versehentlich vertauscht wurden – dieses Motiv diente auf der Kinoleinwand oder dem Fernsehbildschirm schon als Grundlage für eine überdrehte Hollywood-Komödie (Zwei mal Zwei, 1988), für diverse US-TV-Movies (etwa Babyswitch – Kind fremder Eltern, 1991), für eine seifige Teenagerserie (Switched at Birth, seit 2011), ein überbordendes Indien-Epos (Mitternachtskinder, 2012) oder ein japanisches Familiendrama (Like Father, Like Son, 2013). Einzigartig ist das Szenario, das Writer-Director Lorraine Lévy gemeinsam mit Noam Fitoussi und Nathalie Saugeon in dem 2012 uraufgeführten Werk Der Sohn der Anderen entworfen hat, also gewiss nicht. Der politische, religiöse und kulturell-gesellschaftliche Kontext der Geschichte sowie die empathisch interpretierten Figuren machen den Film dennoch zu etwas Besonderem.
Zu Beginn der Handlung ergibt ein Bluttest, dass der beinahe 18-jährige Joseph (Jules Sitruk) nicht der leibliche Sohn seiner Eltern Orith und Alon Silberg (Emmanuelle Devos und Pascal Elbé) sein kann. Die israelisch-französischen Eheleute aus Tel Aviv müssen erfahren, dass ihr Kind bei der Geburt – während einer Bombardierung in Haifa – vertauscht wurde. Die biologischen Eltern von Joseph sind Leïla und Saïd Al Bezaaz (Areen Omari und Khalifa Natour) – ein palästinensisches Paar aus einem Dorf im Westjordanland, welches wiederum das Kind der Silbergs aufgezogen hat: den selbstbewussten Yacine (Mehdi Dehbi), der gerade in Paris seine Abiturprüfung bestanden hat und nach einem Besuch bei der Familie sein Medizinstudium aufnehmen will, um eines Tages seinen Vater operieren und ein Krankenhaus in der Heimat eröffnen zu können.

Der Regisseurin und Ko-Drehbuchautorin Lorraine Lévy (Wenn wir zusammen sind) gelingt es im ersten Drittel des Films hervorragend, nach und nach das zentrale Personal vorzustellen und dabei allen Beteiligten gerecht zu werden. So wird dem behütet aufgewachsenen Joseph durch die feinfühlige Performance des Jungschauspielers Jules Sitruk etwas sehr Kindliches verliehen: Der musikalisch begabte Junge ist ein Träumer, dessen Rebellion sich auf gelegentlichen Marihuana-Konsum mit seiner Clique beschränkt. Yacine – den Mehdi Dehbi ausgesprochen charismatisch verkörpert – wirkt indes deutlich reifer; er hat sein Elternhaus früh verlassen müssen und bereits eine genaue Vorstellung von dem, was er machen und sein möchte. Die privaten und/oder beruflichen Situationen der vier Erwachsenen werden ebenfalls nachvollziehbar skizziert, wodurch sich deren Reaktionen sowie ihr jeweiliger Umgang mit den Gegebenheiten begreifen lassen. Die Rollen wurden zudem nicht minder treffend besetzt; insbesondere Emmanuelle Devos (Violette) liefert von Anfang bis Ende Momente, die gänzlich ohne Sentimentalität nahegehen.

Zu dem nicht unerheblichen Konflikt der vertauschten Neugeborenen, der zwangsläufig zu einer Identitätskrise der betroffenen Kinder führt und die Frage aufwirft, was das Konzept „Familie“ eigentlich ausmacht und woran sich elterliche Liebe letztendlich knüpft, kommt hier der Nahostkonflikt hinzu. Für die beiden Elternpaare wuchs der leibliche Sohn jeweils beim politischen Gegner auf; um sich zu treffen, muss ein Checkpoint passiert werden. Neben sprachlichen Barrieren – es wird Französisch, Hebräisch, Arabisch und Englisch gesprochen – sieht sich Joseph überdies mit einem religiösen Problem konfrontiert: Ist er immer noch Jude oder ist er es nun qua Geburt nicht mehr, obwohl er stets nach den jüdischen Sitten und Gebräuchen gelebt hat? Zwar kann Lévy in ihrem Werk nicht die ganze Komplexität des israelisch-palästinensischen Konflikts erfassen; doch sie hat einen klugen, bedachtsamen Film geschaffen, der ein ernsthaftes Interesse an seinen Figuren erkennen lässt und von Öffnung erzählt – denn der „Sohn der Anderen“ ist im Endeffekt ein anderer, ein weiterer Sohn. Die Schlusseinstellung sowie der Schlusssatz (gesprochen von Yacine) wurden perfekt gewählt.

Der Sohn der Anderen

Zwei Säuglinge, die bei ihrer Geburt in der Klinik versehentlich vertauscht wurden – dieses Motiv diente auf der Kinoleinwand oder dem Fernsehbildschirm schon als Grundlage für eine überdrehte Hollywood-Komödie („Zwei mal Zwei“, 1988), für diverse US-TV-Movies (etwa „Babyswitch – Kind fremder Eltern“, 1991), für eine seifige Teenagerserie („Switched at Birth“, seit 2011), ein überbordendes Indien-Epos („Mitternachtskinder“, 2012) oder ein japanisches Familiendrama („Like Father, Like Son“, 2013).
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