Der Ruf der Gradiva

Eine Filmkritik von Stefan Dabrock

Existenz Kunst

2006 drehte der inzwischen verstorbene und damals über 80-jährige Alain Robbe-Grillet noch einmal einen Film. Seine letzte Regiearbeit lag da gut zehn Jahre zurück. In Der Ruf der Gradiva nimmt Robbe-Grillet bekannte Motive aus seinem bisherigen Werk auf, um sie als Bildercollage zu arrangieren, in der das Rätsel auf selbstverständliche Weise hingenommen wird. Eine Entschlüsselung scheint nicht mehr notwendig zu sein, weil die Existenz im artifiziellen Raum der Sinn geworden ist.
Der Orientalist John Locke (James Wilby) befindet sich auf einer Studienreise im marokkanischen Marrakesch. Er beschäftigt sich dem französischen Maler Eugène Delacroix, der sich Anfang der 1830er Jahre in dem nordafrikanischen Land aufgehalten hat. Als ihm durch einen Unbekannten Dias einiger Skizzen Delacroix‘ zugespielt werden, die möglicherweise aus zwei verschollenen Büchern des Malers stammen, begibt sich Locke auf eine Reise durch die Gassen der Stadt. Dabei sieht er immer wieder die Frau auf den Skizzen, bei der es sich um eine Geliebte Delacroix‘ handeln soll, die nur Gradiva genannt wird. Während sie einerseits als Traumbild in Erscheinung tritt, begegnet Locke derselben Frau auch an anderer Stelle. Jetzt ist sie aber eine ganz und gar handfeste Schriftstellerin namens Leila (Arielle Dombasle), die auch als Schauspielerin tätig ist. Während Locke in ein verwirrendes Spiel zwischen Traum, Historie und Gegenwart hineingezogen wird, pflegt er eine sexuelle Beziehung zu seiner unterwürfig erscheinenden Dienerin Belkis (Dany Verissimo-Petit).

Alain Robbe-Grillet hantiert in Der Ruf der Gradiva mit zahlreichen Motiven aus früheren Werken herum. Die Schriftstellerin Leila behauptet, dass ihre zur Papier gebrachten Worte die Handlung des Films beeinflussen, so wie sich in Trans-Europ-Express (Frankreich/Belgien 1967) die Fantasie eines Autoren ebenfalls materialisiert. Sexuelle Beziehungen zwischen Dominanz, Unterwürfigkeit und Sadomasochismus haben Robbe-Grillet beispielsweise in Eden und Danach (L’éden et après, Frankreich/Tschechoslowakai 1970) sowie Das beständige Gleiten der Begierde (Glissements progressifs du plaisir, Frankreich 1974) interessiert. Einzelne Szenen dieser Filme dienen hier sogar als Traumsequenzen.

Während er aber in früheren Filmen das Rätsel als solches ausgestellt hat, indem er irritierende, narrativ völlig unlogische Schnittfolgen verwendete, sucht er diesmal die Konsistenz des Irrationalen. Locke selbst unternimmt nur zaghafte Versuche, um die Rollenwechsel der Figuren um ihn herum, die aufgebrochene Logik und die Sprunghaftigkeit der Ereignisse zu hinterfragen. Wenn ein Mann als Antiquitätenhändler vorgestellt wird, später aber in anderer Funktion wieder auftaucht, dann ist das nur eine kurze Erwähnung wert. Das Leben geht auch ohne hundertprozentige innere Logik weiter.

Wichtiger als rationale Gedankenspiele sind die visuellen Reize der Bilder. Locke lässt sich durch die Phantasmagorie der Gradiva ebenso verführen wie durch die undurchdringliche, stets ästhetisch ausgefeilt dargebotene Struktur der Ereignisse, die neugierig auf weitere Erfahrungen macht, ohne dass eine genaue Erklärung nötig ist. Und so pendelt er zwischen Phasen hoher Aufmerksamkeit und solchen hin und her, in denen intuitive Sinneswahrnehmungen die Oberhand haben. Er ist ein getriebener Charakter innerhalb einer künstlichen Konstruktion aus Träumen, scheinbar extra für ihn inszenierten Szenerien und der Kraft sexueller Begierde. Hier hat er seine Existenz gefunden, weil das Leben und seine Rätselhaftigkeit nicht zu entschlüsseln sind. Stattdessen zählt die Faszination für das Unbegreifbare.

Etwas überraschend fällt beim Bild der DVD eine gewisse Unruhe auf. Die Kompression arbeitet nicht ganz sauber, sodass die Schärfe einzelner Bereiche wechselt. Zusätzlich schwankt sie zwischen einzelnen Szenen. Insgesamt ist das Ergebnis aber in Ordnung, zumal die Farben gut wiedergegeben werden und der Kontrast ebenfalls sauber arbeitet.

Die DD-2.0-Tonspuren kommen ohne Verzerrungen und störendes Hintergrundrauschen aus, sodass die Dialoge gut verständlich sind und die Musik gut zur Geltung kommt.

Das siebenminütige Interview mit Alain Robbe-Grillet (Regie) dreht sich um seine Ansichten über die Kunstform Film, die er explizit von naturalistischen Forderungen abhebt. Hier bekommt man noch einmal einen knappen, aber prägnanten Einblick in die Gedankenwelt des Regisseurs.

Eine Bildergalerie und ein Trailer sind ebenfalls auf der DVD enthalten. Im 16-seitigen Booklet, das in identischer Form auch in der DVD zu Eden und Danach enthalten ist, befindet sich ein lesenswerter Text des Filmwissenschaftlers Marcus Stiglegger über das Werk Robbe-Grillets.

Der Ruf der Gradiva

2006 drehte der inzwischen verstorbene und damals über 80-jährige Alain Robbe-Grillet noch einmal einen Film. Seine letzte Regiearbeit lag da gut zehn Jahre zurück. In „Der Ruf der Gradiva“ nimmt Robbe-Grillet bekannte Motive aus seinem bisherigen Werk auf, um sie als Bildercollage zu arrangieren, in der das Rätsel auf selbstverständliche Weise hingenommen wird. Eine Entschlüsselung scheint nicht mehr notwendig zu sein, weil die Existenz im artifiziellen Raum der Sinn geworden ist.
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