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In seiner Tatort-Folge Der Rote Schatten befasst sich Dominik Graf mit dem deutschen Herbst, der Todesnacht von Stammheim und den Spuren, die wegen dieser unverarbeiteten Traumata im kollektiven deutschen Gedächtnis bis heute nicht verblassen wollen.

Der Rote Schatten (2017)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Das Unbewusste im Kollektivgedächtnis

Im Jahr 2003 veröffentlichte Dominik Graf einen Essay in der Zeit, in dem er ein flammendes Plädoyer für das deutsche Genrekino hielt: dafür, die Beziehungskomödien der 1990er Jahre ernster zu nehmen, vor allem aber für mehr Politthriller, für Horror, Fantasie und Action, ein finsteres, ironisches, abgründiges, böses Kino.

Er hatte gute Beweggründe: „Man weiß ja, dass erst in den unterirdischen Katakomben, in den kollektiven psychologischen Traumflüssen, in den Märchen und Mythen, die einen Staat, die eine Nation und ihre Menschen miteinander verbinden und die sie alle gemeinsam durchschiffen, dass erst dort der Platz ist für die Wahrheiten des gemeinsamen Empfindens und für das historische Allgemeingedächtnis. Und nicht in all dem politischen und kulturellen Alltagsgewäsch an der TV-Oberfläche.“

Im Jahr 2017 drehte Graf dann einen Stuttgarter Tatort, da erlebte die Reihe gerade eine Hochphase. Auch Dietrich Brüggemann hatte kurz zuvor eine vielbeachtete Episode geliefert. Ironischerweise folgte kurz darauf die Ansage der ARD, man wolle ab sofort nur noch Platz für zwei „experimentelle“ Folgen pro Jahr einräumen. Eine traurige Nachricht, denn eigentlich könnte das Format all das leisten, was Dominik Graf in seinem 2003er Essay forderte. Durch seine lokale Anbindung, wechselnde Regisseure und Teams bietet der Tatort unendliche Möglichkeiten, um auf den verschiedensten Ebenen im Un- und Vorbewusstsein des deutschen Kollektivgedächtnisses zu wühlen. Graf macht es mit Der rote Schatten vor, der in Rotterdam als knapp vierzehn Minuten längerer Director’s Cut läuft. Zunächst ist schwer auszumachen, welcher der zentrale Fall des Films ist, denn mit hohem Tempo verflicht der Regisseur gleich zu Beginn verschiedene Handlungsfäden miteinander: eine aus der Gerichtsmedizin entwendete Tote, ein Überfall auf einen Geldtransport, ein Mordverdächtigter, der vom Verfassungsschutz gedeckt wird. All diese Fadenenden verweisen auf einen Sündenfall, der weit zurückliegt, verweisen auf den Deutschen Herbst, die Taten der RAF, ihrer Sympathisanten und ihrer Feinde.

Das Bild ist dem Ton ständig voraus: oft berichtet jemand von Figuren oder Orten, die wir schon zu sehen bekommen. Oder das Bild hängt nach: dann erzählt jemand in der Gegenwart von zurückliegenden Begebenheiten, die wir dann sehen. Diese Bild-Ton-Schere hält das Tempo auf Trab und erfordert beim Schauen eine hohe Aufmerksamkeit, schnell entgehen einem sonst Details. Das potentielle Verwirrspiel ist beabsichtigt, denn auch die Episode deutscher Geschichte, um die es geht, fordert unterschiedliche Lesarten heraus. Dominik Graf lässt die Stimmung in der Bundesrepublik seit den späten 1960er Jahre nicht nur auferstehen, indem darüber geredet wird. Er verwendet auch Archivmaterial, Schlagzeilen von damals, Schwarz-Weiß-Aufnahmen vom Schah auf Deutschlandbesuch, von Benno Ohnesorg, Hanns Martin Schleyer, Mogadischu. Graf nutzt aber auch Reenactments – und bei allem Gespür für das Chaos und die Unsicherheit der Zeit schwingt darin durchaus ein bisschen romantische Sehnsucht mit. Einerseits mag das am Filmlook liegen: links im Bild sind dann Perforationslöcher zu sehen, als sichte man für eine Recherche rohes Material. Es liegt andererseits aber auch an diesen Zusammenkünften, den Menschengruppen und Paaren mit wehendem Haar, mit einem Willen, einem Ziel. „So darf die Welt nicht sein“, versucht Ermittler Thorsten Lannert (Richy Müller) einmal seinem jüngeren Kollegen Sebastian Bootz (Felix Klare) das Denken, das Unrechtsbewusstsein von damals zu erklären. „Und dann überall diese Naziköppe, vor allem in der Justiz.“

Im Zentrum von Der rote Schatten steht schließlich die Todesnacht von Stammheim, die Spekulationen, die sich bis heute darum ranken: War es wirklich Suizid? War es staatlich subventionierter Suizid oder gar Mord? Es geht Dominik Graf nicht darum, klare Antworten auf diese Fragen zu finden. Es geht ihm vielmehr darum, Varianten durchzuspielen und aufzuzeigen, wie das unverarbeitete Trauma noch immer die Gegenwart heimsucht. Im Privaten, aber auch in der Politik, in unserem demokratischen Selbstverständnis. Im umstrittenen Umgang mit dem Verfassungsschutz, mit V-Männern. Grafs Ermittler sind fast immer allein unterwegs. Trotz ihres Partners bleiben sie Einzelkämpfer, denn ist man das im Ringen mit Erinnerungen, mit Traumata und schlecht verheilten Narben letztlich nicht immer? Sie bewegen sich durch eigentümliche Architekturen: trotz Landstraßen und Schrebergartensiedlungen sieht Stuttgart in Der rote Schatten nicht provinziell aus. Graf dreht in gesichtslosen Bürogebäuden, in Doppelhaushälften und Parkhäusern – in betongrauen Landschaften, die keine Verbindung mit der Vergangenheit eingehen, sie vielmehr überdecken, als hätte vor ihnen nie etwas anderes gestanden. In diesem Zusammenhang dürfte es auch interessant sein, noch einmal Der Weg, den wir nicht zusammen gehen zu sehen, Dominik Grafs Beitrag zum Kompilationsfilm Deutschland 09 — 13 kurze Filme zur Lage der Nation. Wollte man dieses Projekt im Jahre 2017 oder 2018 neu auflegen, könnte Dominik Grafs neuer Film wiederum ein Teil davon sein. Ein Film zur Lage der Nation. Wie kein Zweiter erkennt der Regisseur Strukturen und Muster in den Straßen der Städte, in ihren Gebäuden und den Menschen, die darin leben. In ihrem Verhalten, ihren Gewohnheiten und Denkweisen. Wir brauchen Dominik Graf und wir brauchen den Genrefilm.

Der Rote Schatten (2017)

Die Stuttgarter Komissare Sebastian Bootz (Felix Klare) und Thorsten Lannert (Richy Müller) ermitteln in einem Mordfall, der bis zurück in die 1970er Jahre reicht und ungeklärte Fragen um die Stammheimer Todesnacht und den Verbleib ehemaliger RAF-Mitglieder aufwirft.

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