Der die Tollkirsche ausgräbt

Eine Filmkritik von Jean Lüdeke

Ein langer Kurzfilm oder ein kurzer Langfilm?

„Man kann nicht zugleich verliebt und vernünftig sein“, heißt es in einem alten spanischen Sprichwort: Bei Franka Potente ist ihre unglaublich intensive Natürlichkeit ausschlaggebend, weniger die mimische Kraft, sich verstellen zu müssen. Dies bewies sie durch ihre Simplizität schon in Nach fünf im Urwald (1995). Eine Stärke, die sie auch bei ihren nächsten Erfolgen mit Lola rennt (1998), Anatomie (1999) und ein Jahr später in Der Krieger und die Kaiserin voll auszuspielen verstand. Dann folgte 2001 mit Blow, Die Bourne Identität (2002) und 2004 in der Fortsetzung Die Bourne Verschwörung der anspruchslose Erfolg in Hollywood, ohne ihr eigenes, von Hollywood gebeuteltes Ego anzusprechen. Aber auch im filmischen US-Mekka der gewonnenen Träume und verlorenen Illusionen reüssierte sie vor allem abermals durch ihre erfrischende Unbedarftheit.
Nun hat sie für gerade einmal 43 Minuten langes Regiedebüt Der die Tollkirsche ausgräbt ausgerechnet ein denkbar manieristisches und prätentiöses Film-Genre ausgewählt. Denn sie wagt sich mit ihrem schwarz-weißen Melodram sogleich an die großkaiserliche Disziplin des Kinos schlechthin, den stummen Film.

Deutschland, 1918, das wilhelminische Reich neigt sich seinem desaströsen Ende zu: Da soll die verarmte Cecilie (Emilia Sparagna) den wohlhabenden, recht unattraktiven Freier Alfred (Max Urlacher) ehelichen: Am Tage vor der Hochzeit aber wird vor dem Herrschaftshaus aus einer vergrabenen Mumie ein vivider Punk (Christoph Bach) ausgewickelt, der, wie selbstverständlich, den Ton benutzt, statt über Zwischentitel zu dialogisieren. Eine Sensation, in die sich Cecilie selbstverständlich flugs verschießt. Natürlich überschatten Irrungen und Wirrungen das junge Glück, bei denen gleich Zaubertränke und dunkle Mächte ins Spiel gebracht werden. Eine weitere tolle Idee bildet die Seelenverwandschaft des Punks mit Pornoblättchen zu Cecilies geilem Vater, (Justus von Dohnányi), der im Keller eine „Popo-Klatschmaschine“ betreibt. Ganz schön schräger Stoff, an dem sich Regie-Debütantin Potente leicht verhoben hat. Schon die Story schwankt zwischen zusammengewürfelten Mysterien und egozentrischem Wahnwitz. Dennoch finden sich respektable experimentelle Versuche und und saubere handwerkliche Ansätze: Von Stopp-Tricks bis hin zu den genretypischen Off-Kreisblenden. Alles verbunden mit dem eigentümlichen Charme von langen Nosferatu-Fingernägeln und melancholischen Charlie Chaplin-Slapstick.

Fazit: eine launige und bizarre Lovestory, wild gedreht, assistiert vom Babelsberger Filmorchester in brillant symphonischer Kraft. Dabei werden die besonderen Gestaltungsmittel des expressionistischen Films (Licht- und Schattendramaturgie) und des Kammerstücks sehr frei adaptiert, um sich mit Darstellungscharakteristika von Theater, Klamauk und Fantasy-Elementen querbeet zu verquicken. Und das ohne große Worte: Für Franka Potente ist intensive Filmarbeit immer wieder die elliptische Kunst des Aussparens: So in ihrem bekanntesten Kinoerfolg. Da rannte Lola wesentlich häufiger, als daß sie redete.

(Jean Lüdeke)

Der die Tollkirsche ausgräbt

„Man kann nicht zugleich verliebt und vernünftig sein“, heißt es in einem alten spanischen Sprichwort: Bei Franka Potente ist ihre unglaublich intensive Natürlichkeit ausschlaggebend, weniger die mimische Kraft, sich verstellen zu müssen.
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