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Kinder werden vermisst und Reporterin Alicja reist in ihre Heimatstadt zurück, die sie lange schon verlassen hat. Wo die Geister der Vergangenheit und die Schrecken der Gegenwart nun unbarmherzig auf sie einwirken… „Dunkel, fast Nacht“ von Borys Lankosz: ein unheimlicher Mystik-Familien-Krimithriller.

Dunkel, fast Nacht (2019)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Verlorene Kinder der Nacht

Eine Heimkehr als Reise in die Nacht: Der Zug zieht langsam durch die Dunkelheit, fährt in einen Tunnel; im Inneren Alicja, Journalistin auf Reportagereise und auf dem Weg in ihre Heimatstadt, wo in den vergangenen Monaten drei Kinder verschwunden sind. Die Geräusche des Zuges, quietschend und ratternd, sind ebenso enervierend wie die Gesichter der Mitreisenden und der rempelnde Rüpel, der durch den Gang läuft. Die Musik zwischen klassischen Streichern und modernen Dissonanzen setzt ihre eigenen Akzente zu den Bildern in Beinahe-Monochrom, mit starken Hell-Dunkel-Kontrasten: Vom Feeling her ein Noir, und so heißt der Film auch: „Dunkel, fast Nacht“.

Alicja sieht sich in ihrem alten, längst verlassenen Elternhaus mit den Geistern der Vergangenheit konfrontiert, mit Erinnerungen an die Schwester und mit schockartigen Träumen vom Vater. Der Nachbar taucht auf, bietet freundlich Äpfel an. Und nachts schleicht jemand durch den Garten. Tagsüber befragt Alicja die Angehörigen der vermissten Kinder: Ganz eigene Reisen in ganz unterschiedliche Milieus, von der Unterschicht-Vernachlässigung bis zur bemühten Distinguiertheit. Irgendwann wird Alicja sagen, sie könne nun wieder wegfahren, habe alle befragt, habe genug Material für ihre Reportage. Aber sie wird bleiben und ihr werden weitere Geschichten erzählt.

Denn das ist das Besondere an Dunkel, fast Nacht: Dramaturgisch hochinteressant hält der Film immer wieder inne, um jemandes Erzählungen zu lauschen. Erzählungen von früher, von Kindern, vom Ungeliebtsein, von Einsamkeit, von der Finsternis der Seele. Von den Beschädigungen in der Familie und in der polnischen Geschichte, gerade hier in Schlesien, wo zuerst die Deutschen waren, dann der Krieg und dann die Russen. Es sind Exkurse, eingeschoben als eigenständige Kapitel, die eine verwundete und heruntergekommene Gesellschaft schildern, im Inneren wie im Äußeren.

Diese Exkurse werden ergänzt von einer durchgehend eingewobenen Ebene des Mystischen. Von den Kindheitsgeschichten, die vom schwarzen, schwarzen Haus im schwarzen, schwarzen Wald erzählen und von den bösen Katzenfressern; von der Sehnsucht nach den Perlen der Prinzessin Daisy, diesem traumhaften Schatz, der alles gut machen wird. Es sind Geschichten, mit denen sich Kinder des Nachts wohlig gruseln können und mit denen sie wohlig träumen können, die ihr Leben bestimmen. Und den Film. Immer wieder tauchen Perlen auf. Immer wieder tauchen Katzenfrauen auf. Immer wieder bricht das Märchenhaft-Poetisch-Fantastische ein in die realen Recherchen zu den vermissten Kindern, immer wieder wird die Grenze zwischen Realität und Horror durchlässig, ohne dass der Film auf grelle Effekte oder auf die Standards des Genres zurückfallen würde. Die Katzenfrauen könnten auch einfach irgendwelche verrückten Tanten sein, so wie fast alle Figuren verschroben sind. Die Perlen könnten eingebildet sein, ebenso wie das Leitmotiv mit den kaputten, verbrannten Barbiepuppen, verkohlt oder als Aschenbecher missbraucht. Das macht die sogartige Wirkung des Filmes aus.

Gegen Ende gerät Regisseur Borys Lakosz ein bisschen zu stark in die Familienwirren hinein: In anderem Zusammenhang, mit weniger düsterem Geschehen und hellerer Filmästhetik könnte man von einer gewissen Seifenopernhaftigkeit reden, wenn die Stammbäume der Vergangenheit sich allzu sehr ineinander verwachsen. Doch die generelle Wirkung einer unheimlichen – einer un-heimeligen – Atmosphäre, die starken Bande des Vergangenen, das ins Heute wirkt, die Verkommenheit und die leise Hoffnung im Hintergrund, irgendwo: Die halten einen im Bann.

Dunkel, fast Nacht (2019)

Weil das Städtchen Walbrzych von einer ganzen Serie mysteriöser Kindesentführungen heimgesucht wird, macht sich die Journalistin Alicja Tabor auf in den Ort, in dem sie selbst aufwuchs. Sie trifft die Familien der verschwundenen Kinder und macht sich auf die Suche nach den wahren Hintergründen der seltsamen Verbrechen, die die Polizei vor ein Rätsel stellen.

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