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Wohin führt einen die Schuld? Wie kann man sich dem nicht enden wollenden, überwältigenden Gefühl der Trauer stellen? In „Cronofobia“, dem Schweizer Spielfilmdebüt von Francesco Rizzi, treffen zwei einsame Seelen mit genau diesen tiefschürfenden Fragen aufeinander und verlieren sich in einem kathartischen Spiel der Identitäten.

Cronofobia (2018)

Eine Filmkritik von Elisabeth Hergt

Zeit, die vergeht

Michael Suter (Vinicio Marchioni) ist ein mysteriöser Mann. In seinem weißen Transporter fährt er gedankenverloren durch die Gegend, hört sich dabei Kriminalgeschichten an und auch mal Charles Bukowski. Sein Job ist es, auf Anfrage von Geschäften und Unternehmen die Servicequalität zu überprüfen und interne Betrugsfälle aufzudecken. Dafür muss er sich verkleiden, anpassen und sich das Vertrauen der Menschen erschleichen. Doch bei seinem letzten Auftrag ist die Situation eskaliert. Jetzt ist er wieder unterwegs, obwohl er sich eigentlich aus dem Hauptgeschäft zurückziehen will. Seine Pausen macht er an Raststätten, die ihn zu vereinnahmen drohen. An diesen Zwischenorten ist er zu Hause. Er schaut sich Wohnungen an, die er dann nicht nimmt, schläft in Hotels, seinem Wagen und schließlich bei Anna (Sabine Timoteo), die er bisher nur heimlich aus der Ferne beobachtet hat…

Anna Martini hat ihren Mann Manuel (Alberto Ruano) verloren. Seitdem steht die Zeit für sie still und läuft doch auch so unerträglich konstant weiter. Der Küchentisch in ihrem Haus ist so verstaubt, dass man jeden Abdruck sieht, die Hemden hängen unverändert im Schrank, genauso wie die Fotos einer einst großen Liebe im Hobbykeller. Alle Räume wirken düster und kalt, unbewohnt, tot eben. Immer wenn Anna joggen geht, schließt sich die Schranke vor ihr, bevor der heranfahrende Zug an ihr vorbeirast. In diesem Moment hört niemand den Schrei einer Frau, die sonst alles zurückhält und sich in ihrer Trauer vergraben hat. Trotz ihrer scheuen, wenngleich impulsiven Art steigt sie eines Tages einfach in das Auto von Michael und fährt mit ihm durch die Nacht, ohne überhaupt seine Anwesenheit vor ihrem Haus zu hinterfragen. Zunächst will sie nur einschlafen, aber dann erzählt sie ihm auch von ihrem verlorenen Paradies. Er versucht, wenn auch vergeblich, seine Fassade aufrecht zu erhalten. Schon kurze Zeit später geht sie mit dem Hammer auf ihn los, um die Wahrheit zu erfahren. Doch dann sitzen sie sich auf einmal am Tisch gegenüber und auf Anweisung hält er die Zigarette, so wie ihr Mann es immer getan hat, „mit der linken Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger unter dem Filter.“ Ein subtiler Austausch beginnt sich zu entwickeln.

Cronofobia hat seine Deutschland-Premiere 2019 beim Filmfestival Max Ophüls Preis in Saarbrücken gefeiert und dort als Erstlingswerk direkt den Preis für die beste Regie und das beste Drehbuch gewonnen. Entstanden ist ein Genrefilm, der einen unmittelbar und ohne große Vorwarnung mitnimmt, involviert und einen ganz eigenen, speziellen Sog auslöst. Das gelingt diesem Drama mit Thriller-Elementen vor allem durch die behutsame, aber auch radikale Offenlegung des menschlichen Schmerzes, der die beiden Hauptfiguren einander näherbringt. Fast unfreiwillig wird man dabei Zeuge einer geheimen Übereinkunft, die sich einem nicht sofort erschließt. Vielmehr verspürt man zunächst eine unterschwellige Gefahr, bevor man sich bewusst der Melancholie der einzelnen Momente annimmt.

Michael und Anna sind schon zu lange an ihre Zustände gewöhnt. Ihre Wahrnehmung ist isoliert, ungefiltert und zeitlos. Darin steckt viel Tragik, aber auch Freiheit. Man könnte sich fast mit ihnen in der Einsamkeit verlieren, der sie sich ausgesetzt sehen. Die Kamera folgt den Prozessen sehr bedacht, auf schlichte, unterkühlte Art und Weise und doch auch mit intensiven Bildern, die die Vielschichtigkeit des Geschehens untermalen. Zuletzt ist es Michael Pearce mit „Beast“ gelungen diese besondere düstere Atmosphäre zu entwerfen, die sich wie ein Mantel um zwei verlorene Protagonisten legt und ihre Aktionen stimmungsvoll ins Unerwartete abdriften lässt. Hier wird man zu einem ähnlichen Schauspiel eingeladen, einer feinen Psychoanalyse, die von der Dynamik lebt, dem nuancierten Spiel von Vinicio Marchioni und Sabine Timoteo.

Wenn Michael Suter im Restaurant am Rastplatz, wie so oft, einfach dasitzt und Bukowskis „Nirvana“ hört, dann ruht er in sich und ist von der Außenwelt abgeschnitten:

„the young man watched
the snow through the
windows.
he wanted to stay
in that cafe
forever.

the curious feeling
swam through him
that everything
was
beautiful
there,
that it would always
stay beautiful
there.“

Man kann sich dem Leben schnell verweigern, sich fremd und nicht zugehörig in der Welt fühlen, vor allem nach einem Verlust, aber auch wenn man sich selbst dazu verurteilt. Es erscheint irgendwann stimmig in einem so absoluten Zwischenzustand aufzugehen. Cronofobia bewegt sich elegant, fast poetisch in diesem Spannungsfeld Hin und Her, ohne eine allgemeingültige Bewältigung anzubieten. Dabei entsteht im Verlauf etwas Großes im Kleinen und ein Neuanfang wird möglich.

Cronofobia (2018)

Suter (Vinicio Marchioni) ist ein mysteriöser, eigenbrötlerischer Mann, permanent in Bewegung und auf der Flucht vor sich selbst. Den Tag über reist er durch die Schweiz, in seinem anonymen weissen Transporter. In der Nacht beobachtet er heimlich das Leben von Anna (Sabine Timoteo), einer rebellischen Frau, die ein grosses Trauma zu überwinden versucht. Als die Frau seine Obsession für sie entdeckt, entspinnt sich eine eigenwillige Form von Intimität zwischen den beiden, die bald in eine zärtlich-verstörende Beziehung mündet. Aber das zerbrechliche Gleichgewicht ist bedroht von einem dunklen Geheimnis…

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Meinungen

Martin Zopick · 02.03.2021

Allein schon der Beipackzettel zu diesem Film schreckt die Hälfte der Interessenten ab und wenn Mr Google auch nicht hilft, geht die andere Hälfte von der Fahne. Der Titel bezeichnet die Angst vor dem Vergehen der Zeit. Umgangssprachlich auch Torschlusspanik genannt. Es kann aber auch die Angst vor dem anderen Geschlecht sein oder die Angst vor allem Andersartigen.
Das versucht Regisseur Rizzi an zwei Figuren zu veranschaulichen: Michael (Vionicio Marchioni) ist Privatdetektiv und Anna (Sabine Timoteo), eine vereinsamte Friseurin in tiefer Trauer um ihren Mann. In bruchstückhaften Versatzstücken kommen sie sich näher ohne sich echt zu begegnen. Gemeinsames Kochen, Joggen, Kneipenbesuch läuft ins Leere, nicht einmal eine lesbische Dreierintimität, bei der Michael zuschaut, kann etwas Aufregendes bewirken. Beide bleiben kalt und tot wie der New Yorker Friedhof, nur kleiner.
Wieso hat er sich diese seltsame Randfigur ausgesucht? Andere Frauen wie die nette, adrette Bedienung Katja strahlen ihn doch ermunternd an. Vielleicht ist es die alte Binsenweisheit, dass sich Seelenverwandte gegenseitig anziehen und eventuell in den Abgrund ziehen. Wenn der Zuschauer das begreift, versteht er, dass diese Gefühle nicht die Oberhand in seinem Leben gewinnen dürfen.