Court

Eine Filmkritik von Patrick Wellinski

Anklage gegen das Justizsystem

Manchmal ist das Klima eines Films bereits die halbe Miete. So ist es auch in Court, dem sehr reifen Debüt des 27-jährigen indischen Regisseurs Chaitanya Tamhane.
Eine Bühne in einem Hof. Darauf singt eine Mann ein Protestlied. Er singt es laut und inbrünstig, mit einem kommentierenden Chor aus zwei Männern und zwei Frauen, die seine Klagen unterstreichen. Zum Beispiel immer dann, wenn er „Verrat“ oder „Ungerechtigkeit“ oder „Armut“ singt. Rechts aus dem Bild kommen Polizisten. Betreten langsam die Bühne und nehmen den älteren Mann in Gewahrsam. Vor Gericht wird ihm der Prozess gemacht. Die Anklage lautet: Anstiftung zum Selbstmord. Angeblich hat sich ein Arbeiter nach einem seiner Protestlieder das Leben genommen. Der Anwalt versucht gegen die haltlosen Vorwürfe vorzugehen und muss sich nicht nur gegen eine linientreue Staatsanwältin behaupten, sondern auch gegen einen unkritischen Richter.

Court wird so zum Gerichtsdrama, wobei Tamhane den Genrevorgaben geschickt und überraschend aus dem Weg geht. Energisch inszenierte Wortwechsel vor dem Richter sehen wir nicht, auch keine akribisch vorbereitete Untersuchung. Tamahane zeigt dagegen voller Geduld, die zermürbende, dysfunktionale Seite der indischen Justiz. Die Paragraphenhörigkeit der Staatsanwältin, die ihre Anklagepunkte lediglich abliest und nicht davor zurückschreckt spät-viktorianische Gesetze als Grundlage ihrer Vorwürfe zu zitieren. In Kombination mit den geduldigen Totalen, die den Film strukturieren, lotet Court die Ungerechtigkeiten eines Systems aus, das sich von der Lebenswirklichkeit der Protagonisten sichtlich entfernt hat.

Das verdeutlicht das sehr klug komponierte Drehbuch, indem es jeder Partei aus dem Gericht folgt. Wir sehen den Verteidiger, wie er einen Vortrag hält, wie er darauf in den Supermarkt fährt und mit einem Bier in der Hand vor dem laufenden Fernseher einschläft. Wir sehen auch, wie er eines Tages bei seinen Eltern zum Essen ist und sich den bohrenden Fragen seiner Mutter aussetzen muss, warum er im Alter von 36 Jahren noch nicht verheiratet sei. Sein nächster Auftritt vor Gericht erscheint uns dann unter diesen Umständen in einem völlig anderen Licht.

Wir folgen auch der Staatsanwältin. Sehen wie sie ihren Sohn von der Schule abholt, wie sie über den neuen Sari einer Kollegin diskutiert, wie sie am Telefon einen Familienstreit schlichten muss, während sie müde und geschafft noch ein Essen für die Familie zubereitet. Auch ihre Einstellung zu Recht und Gerechtigkeit kann danach neu gedeutet werden. Selbstverständlich gilt das gleiche für den Richter.

Mit dieser sehr demokratischen Sicht auf seine Protagonisten erinnert Court an die Filme der rumänischen Welle, die auch immer versucht haben, die Ohnmacht des Individuums gegen das post-kommunistische System zu zeichnen. Interessanterweise arbeitet auch Court mit den für das rumänische Kino so typischen langen Einstellungen, die den Blick nicht lenken, sondern eine gewisse Freiheit erlauben. Denn wir sind es, die den Objekten und Personen die Bedeutung zumessen. So entstehen ständig neue Deutungs- und Sehmomente auf ein Land, dessen gesellschaftspolitische Strukturen betäubt sind und Gefahr laufen, jederzeit auch in extremistische Richtungen umgedeutet zu werden. Ein Film wie ein beunruhigender Warnruf und dabei wundersam klar und kräftig.

Court

Manchmal ist das Klima eines Films bereits die halbe Miete. So ist es auch in „Court“, dem sehr reifen Debüt des 27-jährigen indischen Regisseurs Chaitanya Tamhane.
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