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Tim Lienhard porträtiert in „Character One: Susan“ die Berlinerin Susan – eine schillernde, selbstbewusste Person, die über sexuellen Missbrauch, über Partys, Einsamkeit und psychische Erkrankungen spricht.

Character One: Susan (2018)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Greller Glamour

„Schizoaffektive Persönlichkeit!“, ruft uns Susan gleich zu Beginn des Dokumentarfilms „Character One: Susan“ direkt in die Kamera zu – und schickt noch ein beißendes „God knows what it means!“ hinterher. Kurz darauf sehen wir sie glamourös gekleidet, geschminkt und frisiert durch den Park schreiten, unterlegt mit Klängen von Georg Friedrich Händel.

Schon dieser Einstieg fasst die Widersprüche in Susans Lebensweg äußerst treffend zusammen. Zu kaum einem anderen Menschen dürfte die (etwas abgenutzte) Bezeichnung „schillernder Charakter“ so perfekt passen wie zu Susan. Wenn sie redet, erinnert sie manchmal – wie sie selbst an einer Stelle anmerkt – an die Berliner Unterhaltungskünstlerin Désirée Nick; in einigen betont stilisierten Aufnahmen des Films hat sie etwas von der Italienerin Sophia Loren. Susan strahlt polternden Glanz aus. Alles an ihr mag vielen gewiss um eine Spur zu laut, zu schrill, zu anstrengend sein. Aber gerade die Tatsache, dass ihr das nun wirklich völlig egal zu sein scheint, macht sie letztlich besonders einnehmend.

Der Regisseur Tim Lienhard hat Susan bereits Anfang der 1990er Jahre auf der Loveparade kennengelernt. Und man spürt das Vertrauen, das sie ihm entgegenbringt. Denn Character One: Susan ist ein sehr intimes Porträt geworden. Intim, jedoch nicht voyeuristisch. Wir erfahren viel über Susan; ihr Schicksal wird indes nicht ausgestellt. Zugleich werden Differenzen zwischen dem Filmemacher und seiner Protagonistin unmittelbar eingebaut. „Das sind deine Fantasien!“, wirft Susan dem Regisseur vor, da dieser sie offenbar darum gebeten hat, für Außenaufnahmen einen riesigen Dutt zu tragen. „Ich seh’ aus wie ein abgefuckter Alien, Alter!“, klagt sie, während die Kamera versucht, mit ihr Schritt zu halten.

Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten ist Susan Anfang 50. Sie wurde in Berlin geboren; ihr Vater stammt aus Italien und verließ Susans Mutter, ihren Bruder und sie früh. Seit sie 11 Jahre alt war, wurde sie von einem neuen Partner ihrer Mutter sexuell missbraucht. Die Art und Weise, wie Susan das schildert, hat eine extreme Härte. „Ich war 11 – und da war mein Leben vorbei“, sagt sie – und diese Worte treffen uns so tief und schwer, wie sie es müssen. Susan ging als Kind und Jugendliche zum Ballettunterricht, sie hatte gute Noten in der Schule – brach aber kurz vor dem Abitur ab.

Die 1980er und 1990er Jahre hat Susan nach eigener Aussage auf Droge verbracht. Sie hatte jahrelang keinen festen Wohnsitz, führte dank reicher Beziehungen und Drogenhandel ein Jetset-Leben, bis kein Geld und keine Freundschaften mehr da waren. Die Party war vorbei. Es folgte eine Zeit des völligen Rückzugs. „Bipolar, schizoaffektiv, manisch-depressiv“, so lautete eine psychiatrische Diagnose. Heute lebt Susan von Sozialhilfe. Sie ist oft allein, doch ihr einsiedlerischer Bruder wohnt nur wenige Häuser weiter. Ein guter Freund, der ebenfalls Gewalterfahrungen gemacht hat, ist für sie da – und es gibt auch einen „Monsieur“, wie Susan ihn nennt: einen Partner, der wiederum mit seinen ganz eigenen Sucht- und Geldproblemen zu kämpfen hat. Mit Anfang 50 muss Susan erneut eine Vergewaltigung in ihrer eigenen Wohnung erleben; die beiden Täter, die ihr am Rande eines Festes K.-o.-Tropfen verabreicht haben, können gefasst werden.

Character One: Susan ist ein komplexer Film – weil das Leben komplex ist. Lienhard lässt zu, dass sein Werk zuweilen irritierend und überfrachtet anmutet; alles andere würde auch nicht zu Susan passen. Es ist beeindruckend, wie offen und reflektiert sie über die Dinge spricht, die ihr passiert sind. Und darin liegt die große Stärke dieses Porträts: Man hat das Gefühl, dass Susan ihre Geschichte selbst erzählt. Dass es nach ihren Bedingungen läuft. Wir betreten ihre Welt – und das macht dann wohl uns zu Aliens.

Character One: Susan (2018)

Susan, Anfang 50 ist eine ausgesprochen attraktive Frau. Doch die Halbitalienerin, geboren Anfang der 60-iger Jahre in Berlin ist krank. Sie ist bipolar und schizoaffektiv. Sie habe tausend Leben gelebt, sagt sie stolz in die Kamera, zugleich aber betont sie, dass ihr Leben bereits mit 11 Jahren aufgehört habe. Denn da wurde sie sexuell missbraucht. Trotz guter Schulleistung und dem Versuch, einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen, führte sie nie ein gewöhnliches Leben. (Quelle: UCM.one)

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