Captive

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Geschichte einer Entführung

Mit Filmen wie Kinatay und Lola (beide 2009) hat sich der philippinische Filmemacher Brillante Mendoza bei den großen Festivals dieser Welt mittlerweile einen Namen als einer der interessantesten Regisseure des asiatischen Raumes gemacht; ein Eindruck, der vor allem mit dem Gewinn der Silbernen Palme für die Beste Regie in Cannes für Kinatay gefestigt wurde. Die Ankündigung, dass sein neuer Film Captive nun im Rahmen der Berlinale gezeigt wird, nachdem er angeblich in Cannes und Venedig abgelehnt worden war, war Wasser auf die Mühlen derer, die beim Wettbewerb der Berlinale einen schleichenden Verfall oder Bedeutungsverlust festgestellt haben wollen.
Zumindest in der ersten halben Stunde des Filmes war man durchaus geneigt, sich diesem (Vor)Urteil anzuschließen. Denn was Mendoza hier als Exposition zu der folgenden Chronik einer Entführung anbietet, ist so hektisch und episodenhaft, dass man anschließend vor allem nur durch ein Gesicht überhaupt an dem sich entwickelnden Chaos dranbleibt — und dies ist das Gesicht von Isabelle Huppert, die die Rolle der französischen Sozialarbeiterin Thérèse Bourgoine übernommen hat. Die Schauspielikone ordnet sich hier aber sichtbar dem Ensemble unter und gewinnt erst im Verlauf der Zeit an Gewicht und Präsenz, während sie zu Beginn nur eine Geisel unter vielen ist.

Der Film, der auf wahren Ereignissen beruht, beginnt am 27. Mai des Jahres 2001 auf den philippinischen Palwan-Inseln. Zwei Boote gleiten durch das nächtliche Meer, in einem sitzen Thérèse und ihre ältere Mitarbeiterin Soledad (Rustica Carpio), im anderen eine Gruppe islamistischer Terroristen der Abu Sajaf, die im muslimischen Süden der Philippinen seit dem Beginn der 1990er Jahre für einen islamischen Gottesstaat kämpfen. Thérèse und ihre Freundin geraten in die Operation der Gruppe, gemeinsam mit rund 20 Touristen werden sie verschleppt und als Geiseln genommen. Für sie beginnt nun eine Odyssee, die erst nach unglaublichen Strapazen und mehr als einem Jahr zwischen Hoffnung und Verzweiflung ein Ende haben wird.

Mendoza bleibt ganz dicht dran an der Gruppe, doch lange Zeit scheint es so, als interessiere ihn keine der Geiseln als erkennbarer Hauptcharakter, sondern als ginge es vielmehr um die gruppendynamischen Prozesse, die in dieser permanenten Ausnahmesituation entstehen. Weil die Entführer ihre Geiseln dazu auffordern, ihren Namen, ihre Herkunft und ihren Beruf zu nennen, um die Gefangenen besser auf das herauszupressende Lösegeld zu taxieren, weiß man zumindest in Grundzügen über die Lebensverhältnisse der Gruppe Bescheid. Später, als die Terroristen ein Krankenhaus kapern, werden noch drei Krankenschwestern und ein Arzt zu der Gruppe hinzukommen, die durch Todesfälle und Freilassungen (teils aufgrund des Lösegeldes, teils um Verhandlungen mit der Regierung zu führen) immer weiter dezimiert wird.

Dabei sind es keineswegs nur die Entführer, die den Gefangenen zusetzen — da sich das Militär auf den Fersen der Gruppe befindet und wenig überlegt oder gar rücksichtsvoll vorgeht, geraten die Geiseln immer wieder unter Beschuss und verzweifeln zunehmend daran, dass sich offensichtlich niemand wirklich für ihr Schicksal interessiert. Da sich die Kommunikation mit den Entführern auf ein Mindestmaß beschränkt, sind die Gefangenen deren Plänen mehr oder minder schutzlos ausgeliefert und durch das ständige Leben auf der Flucht, von einem provisorischen Camp zum anderen, von einem Hinterhalt der Armee zur nächsten Schießerei, zermürbt.

Es gibt aber auch Momente der Stille und der (trügerischen) Ruhe, in denen sich Täter und Opfer für Augenblicke ganz nahe sind — wie etwa jene Episode, als Thérèse einen beinahe noch kindlichen Entführer dazu einlädt, auf ihrer Plane zu schlafen und als sie ihn traumverloren streichelt, während er sie nach ihren Kindern und ihrer Familie ausfragt. Man spürt in solchen Momenten genau, dass es Mendoza nicht allein um die Opfer geht, sondern dass ihn ebenso (zumindest diffus) die Umstände der Täter interessieren. Die sind zwar vom Geiste des Fundamentalismus nach dem Vorbild Osama Bin Ladens beseelt, aber auf der anderen Seite eben auch zutiefst in menschliche-allzumenschliche Regungen verstrickt. So werden Frauen aus der Gruppe der Geiseln — anfangs sind es „nur“ alleinstehende, später nimmt man das weniger genau — mit manchen ihrer Entführer zwangsverheiratet, damit diese eine Berechtigung zur anschließenden Vergewaltigung haben. Eine andere Episode ist das plötzliche Verschwinden eines Amerikaners, der unbemerkt auf einen Koran getreten sein soll und der deshalb nachts aus dem Weg geschafft wird.

Nach hektischem Beginn, bei dem man als Zuschauer die Desorientierung der Gefangenen quasi hautnah miterlebt, bekommt der episodenhaft angelegte Film, dem manchmal etwas der klare Fokus und die stringente Dramaturgie fehlt, einen etwas ruhigeren Rhythmus — oder man gewöhnt sich ähnlich wie die Gefangenen, deren Geschichte hier erzählt wird, im Verlauf der zwei Stunden, die der Film andauert, an die permanente Anspannung.

Am Ende des Films verweist Mendoza dann in erklärenden Texttafeln darauf, dass die Dos Palmas Entführung den Hintergrund der Geschichte bildet. Dass das Problem der Geiselnahmen und die Situation im Süden der Philippinen bis heute noch nicht gelöst wurden, nach wie vor sind Entführungen dort an der Tagesordnung: Die Furcht, die wir gerade erst auf der Leinwand gesehen haben, sie wiederholt sich gerade jetzt, in diesem Moment, während wir selbst ruhig, friedlich und sicher im Kino sitzen.

Captive

Mit Filmen wie „Kinatay“ und „Lola“ (beide 2009) hat sich der philippinische Filmemacher Brillante Mendoza bei den großen Festivals dieser Welt mittlerweile einen Namen als einer der interessantesten Regisseure des asiatischen Raumes gemacht; ein Eindruck, der vor allem mit dem Gewinn der Silbernen Palme für die Beste Regie in Cannes für „Kinatay“ gefestigt wurde.
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Meinungen

wignanek-hp · 20.02.2012

Man weiß zunächst nicht, was man von dem Film halten soll. Ist er gut, ist er es nicht? Welche Kriterien soll ich bei meiner Bewertung anlegen?
Der Regisseur nimmt den Zuschauer mit in den Dschungel wie die Entführer die Geiseln und auch für ihn gibt es kein Entrinnen. Er sieht das Elend, den Dreck, die sinnlose Gewalt. Es gibt kaum ein Aufatmen bis zum Schluss, der ganz unspektakulär daher kommt. Auch hier kein Aufatmen. Wäre da nicht die großartige Isabelle Huppert, der Zuschauer wäre verloren in der Handlung wie die Geiseln im Dschungel. Doch gerade diese Atemlosigkeit, dieses Non-Stop an Unzumutbarem macht den Film sehenswert. Man versteht plötzlich, was es heißt, einer Situation nicht entfliehen zu können, sie aushalten zu müssen, so schrecklich sie auch sein mag. Der Film ist ein Lehrstück in Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit. Dabei legt er sein Augenmerk nicht nur auf die Geiseln. Auch die Entführer sind in einer gewissen Weise ihrem Schicksal ausgeliefert. Auch sie haben kaum eine Chance auf ein anderes Leben als das, das sie führen.