Captain Abu Raed

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Käpt`n Blaubär in Amman

Für die Kinder in seinem Viertel wird der zurückgezogen lebende Witwer Abu Raed (Nadim Sawalha) zum „Captain“, als sie ihn eines Tages irrtümlicherweise für einen Flugkapitän halten – und damit verändert sich sein Leben in ungeahnter Weise. Denn als Pilot angesehen steckt der einsame ältere Mann, der als Reinigungskraft auf dem Flughafen der jordanischen Hauptstadt Amman arbeitet, mit einem Mal voller Erzählungen aus der großen weiten Welt, die unter dem jungen Volk in der Nachbarschaft gehörigen Anklang finden. Voller Bewunderung und Staunen von seinem wissensdurstigen Publikum belagert, wird Abu Raed mit seinen Geschichten zu einem festen Bestandteil im kargen, harten Alltag der Urbanität, die den Kindern aus ärmlichem Milieu wenig Raum zur Entfaltung und zum Rückzug bietet. Doch inmitten eines wunderschönen Szenarios über der Stadt gelegen eröffnet Abu Raed ihnen das Territorium des Fabulierens, ein Universum, das weit über seinen eigenen und den Erfahrungshorizont seiner Zuhörer hinausragt und in dem die Möglichkeiten im Gegensatz zu ihrer Lebensrealität grenzenlos erscheinen.
Es entwickelt sich eine innige Freundschaft zwischen dem nunmehr zunehmend auflebenden Captain und seinen kleinen Fans, an deren Sorgen und Nöten Abu Raed immer mehr Anteil nimmt. Er entwickelt sich zum wohlwollenden Berater und Tröster, zu einem Mitverschwörer im rauhen Daseinskampf, der nicht nur erzählen kann, sondern auch zuhören. Durch seine neue, ehrenvolle Position beflügelt wird auch der vermeintliche Flieger immer offener und unternehmungslustiger, und durch die Bekanntschaft mit der jungen Pilotin Nour (Rana Sultan), die ebenfalls ihr nicht immer leichtes Päckchen zu tragen hat, verflüchtigt sich die Tristesse seiner Existenz erneut um einen Grad. Doch es ist unvermeidlich, dass einmal die tatsächliche Tätigkeit Abu Raeds ans Licht kommen muss, zumal Murad (Ghandi Saber), der innerhalb der Gruppe der Kinder nicht recht Fuß fassen kann, dem Erzähler übel gesinnt ist und sich bemüht, ihn als Schwindler zu entlarven …

Mehr als zwanzig Auszeichnungen weltweit hat Captain Abu Raed bereits erhalten, der beim Internationalen Filmfestival in Dubai Premiere feierte und das Spielfilmdebüt des Regisseurs Amin Matalqa darstellt, der in Jordanien geboren wurde und dort seine Kindheit verbrachte, bevor er mit seinen Eltern in die USA emigrierte. Sein Regieauftakt wird im nächsten Jahr für Jordanien in den Wettbewerb um den Oscar als Bester fremdsprachiger Film geschickt – ein geradezu historisches Ereignis, dass es ein Beitrag dieses Landes in das heftig umkämpfte Rennen schafft. Ein gewaltiger Erfolg für den Filmemacher, der auch das Drehbuch der Geschichte schrieb und einige persönliche Erfahrungen als signifikante Elemente in die Handlung eingebaut hat – sein Vater sowie sein Bruder sind Piloten, und die Nähe zum Ambiente des Flughafens hat ihn lange begleitet. So wird dieser Ort des Abschieds und des Wiedersehens auch zum Symbol für die Mobilität derjenigen, die sie sich leisten können, und zur Sehnsucht jener, deren Möglichkeiten stark eingeschränkt sind, wie die Kinder und auch Abu Raed selbst.

Ein Plädoyer für die Notwendigkeit und die heilsame, belebende Wirkung von Geschichten, eine Liebeserklärung an die Macht der Freundschaft und eine kluge Betrachtung über Lüge und Wahrheit stellt Captain Abu Raed dar, wobei die filigran installierte sozialkritische Haltung an der städtischen Gesellschaft stimmig in die Dramaturgie integriert ist – ein heiter wie ernsthaft berührender Film, in dem die kindlichen Charaktere wie Hussein Al-Sous und Udey Al-Qiddissi ebenso überzeugend auftreten wie der Hauptdarsteller Nadim Sawalha (Syriana , 2005, Journey to Mecca, 2008), der die Figur des Abu Raed mit großer Wärme verkörpert. Mit seinen wunderschönen und auch mitunter witzigen Bildern bewegt sich der Film jenseits von Resignation in einer Stimmung, die einen Aufbruch aus der Hoffnungslosigkeit signalisiert, die den benachteiligten Vierteln der Metropolen dieser Welt anhaftet. Dennoch vermeidet diese Perspektive eine Verharmlosung der desolaten Zustände, lässt jedoch Träume und Visionen zu, die es vermögen, den harten Alltag ein wenig erfreulicher zu gestalten und den Glauben an die eigene Kraft zu stärken – ein Balanceakt, der absolut gelingt.

Captain Abu Raed

Für die Kinder in seinem Viertel wird der zurückgezogen lebende Witwer Abu Raed (Nadim Sawalha) zum „Captain“, als sie ihn eines Tages irrtümlicherweise für einen Flugkapitän halten – und damit verändert sich sein Leben in ungeahnter Weise.
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