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Joel Edgerton hat die Autobiografie „Boy Erased“ mit Star-Besetzung adaptiert – und erzählt von den verstörenden Erfahrungen eines jungen Mannes bei einer Konversionstherapie.

Der verlorene Sohn (2018)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Ausradiert

Etwa 700.000 Personen mussten sich bereits einer Konversionstherapie – auch Reparativ- oder Reorientierungstherapie genannt – unterziehen. Ziel dieser menschenverachtenden Pseudo-Therapie ist es, queere, zumeist junge Leute zu „heilen“, da jede Abweichung von Heterosexualität als Krankheit und Sünde angesehen wird. Auch der im US-Bundesstaat Arkansas aufgewachsene Garrard Conley (Jahrgang 1985) wurde nach seinem Coming-out von seinen strenggläubigen Eltern in die Hände einer christlich-fundamentalistischen Organisation gegeben, die ihn auf den vermeintlich „richtigen“, gottgewollten Pfad zurückbringen sollte.

Conley verarbeitete seine Erlebnisse in einem New-York-Times-Artikel sowie in dem 2016 veröffentlichten Roman Boy Erased. Dass die autobiografische Erzählung nun als Basis für eine Hollywood-Produktion mit großen Namen und angesagten Youngstern diente, könnte – im schlimmsten Fall – zu einer Ausschlachtung des Leids vieler queerer Menschen oder zu einem entseelten „Themenfilm“ führen. Abgesehen von einem stellenweise zu hohen Einsatz von Streichermusik und Zeitlupe, der nicht nötig gewesen wäre, um den Schmerz der Beteiligten zu betonen, begeht der Schauspieler Joel Edgerton in seiner zweiten Langfilm-Regiearbeit jedoch nicht den Fehler, eine emotional ausbeuterische oder verkrampft-belehrende Adaption des Stoffes vorzulegen.

Das ebenfalls von Edgerton verfasste Drehbuch zu Der verlorene Sohn konzentriert sich auf seine Figuren und deren Beziehungen zueinander. Der Film interessiert sich weder für dramaturgische Schwarz-Weiß-Malerei noch für herbeikonstruierte melodramatische Höhepunkte; vielmehr schildert er glaubwürdig die familiäre backstory sowie die inneren Auseinandersetzungen seines Protagonisten – und blendet die psychischen Verfassungen der Eltern und des Umfeldes in der evangelikalen Einrichtung nicht aus. In chronologischer Verschachtelung erhalten wir Einblick in das Kleinstadt-Leben von Jared Eamons (Lucas Hedges) – seine Mutter Nancy (Nicole Kidman) ist Hausfrau, sein Vater Marshall (Russell Crowe) ein Autohändler und Prediger in einer bap­tis­tischen Gemeinde. Auf dem College erkennt Jared, dass er sich zu Männern hingezogen fühlt – und erleidet durch seinen Kommilitonen Henry (Joe Alwyn) erst eine extreme Gewalterfahrung und dann eine falsche Anschuldigung.

Als sich Jared seinen Eltern gegenüber öffnet, bringt sein Vater ihn dazu, einer Konversionstherapie zuzustimmen. Die Inszenierung dieser Passage ist gerade deshalb so gelungen, weil sie die Ratlosigkeit aller Personen zeigt. Marshall ist kein grausames Monster, das seinen Sohn bestrafen will – sondern ein Mann, der glaubt, das Richtige zu tun, indem er sich (vermeintliche) Hilfe sucht. Noch eindrücklicher ist die Zeichnung und Entwicklung der Mutter: Nancy könnte mit ihren wasserstoffblond-toupierten Haaren, den künstlichen Fingernägeln und der farbenfroh-glitzernden Kleidung sowie ihrer anfänglichen Passivität eine Klischeegestalt sein, wird aber – auch dank Nicole Kidmans empathischem Spiel – zu einer Frau, die ihre bisherigen Überzeugungen mehr und mehr zu hinterfragen beginnt. „Shame on you!“, wirft sie dem von Edgerton verkörperten Leiter des Konversionsprogramms in einer Schlüsselszene des Werks vor – und ergänzt ihren Vorwurf um die Erkenntnis, dass auch sie selbst sich schämen muss. Damit trifft sie den Kern der Geschehnisse: dass es beschämend ist, einem jungen Menschen Scham einzuimpfen; dass es krank ist, einem jungen Menschen einzureden, er sei krank.

Die Zerrissenheit von Jared wird von Lucas Hedges nachvollziehbar vermittelt – etwa wenn der Teenager am College dem charmanten Xavier (Théodore Pellerin) begegnet und nicht weiß, ob er dessen Flirt-Sprüche als teuflische Versuchung werten muss. Der Originaltitel Boy Erased macht zudem deutlich, womit sich Jared in der Konversionstherapie konfrontiert sieht: Seine Identität soll mit Gehirnwäsche-Methoden ausradiert, ausgelöscht werden. Dies geht von Übungen, in denen demonstriert wird, wie man sich „richtig“ bewegt, bis hin zu körperlicher und geistiger Misshandlung. Dabei wird erkennbar, dass zum Beispiel der Programmleiter Victor Sykes weniger aus purem Sadismus handelt – sondern vor allem mit sich selbst und seinen Vorstellungen von Maskulinität hadert. Die Hintergründe der anderen Therapieteilnehmer_innen werden angerissen; dass sie nicht gänzlich ausgeleuchtet werden, erweist sich durchaus als Stärke – da auch Jared diese Personen nicht wirklich kennenlernt, ihnen nur in flüchtigen Momenten näherkommt. Während der australische YouTube-Star, Sänger, Schauspieler und LGBTQ-Aktivist Troye Sivan einen Jugendlichen verkörpert, der versucht, sich möglichst unbeschadet durch das Programm zu mogeln, indem er vorgibt, die Therapie sei wirkungsvoll, ist der frankokanadische Film-Allrounder Xavier Dolan in einer ungewohnten Rolle als harter, in sich gekehrter Mann zu sehen, der alle Gefühle tief vergraben hat und es nicht einmal mehr wagt, eine andere Person zu berühren.

Der verlorene Sohn ist – erfreulicherweise – mehr als „Der Film zum Thema Konversionstherapie“. Er ist ein komplexes Familiendrama, das allen Mitgliedern in ihren Kämpfen gerecht wird, sowie eine einnehmende Coming-of-Age-Story um Befreiung von Angst und Indoktrination – und eine Betrachtung, die ohne Klischees auskommt.

Der verlorene Sohn (2018)

Jared (Lucas Hedges), der Sohn eines baptstischen Predigers, wird gezwungen, an einem von der Kirche unterstützten Programm zur Umwandlung Homosexueller teilzunehmen. Der Film basiert auf Garrard Conleys Buch „Boy Erased: A Memoir“.

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