Box

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Schlag dich durch

Plötzlich kommt er aus dem Windschatten ins Bild. Ein athletischer Jüngling (Rafael Florea) mit schwarzem Kurzhaarschnitt – und ohne Worte. Ist er manisch? Depressiv? Durchgeknallt – oder einfach nur verliebt? Sein Schulterblick auf die große, deutlich ältere Frau ist beinahe hypnotisch. Lange fixiert er die Frau auf ihrem Nachhauseweg durch die heruntergekommenen Altstadtgassen. Und zugleich bringt er keinen Ton heraus: Ihm fehlt sichtlich der Mut, das „obskure Objekt der Begierde“ (Luis Buñuel) direkt anzusprechen. Oder hat er das im Grunde gar nicht erst vor? Geht es ihm nur um das Verfolgen, ist er ein Stalker? Obwohl er optisch eigentlich gar nicht so bedrohlich-bösartig wirkt … Trotzdem bleibt die Frage: Wer ist dieser junge Mann – und was will er wirklich?
Die anfangs namenlose Frau (Hilda Péter) trägt schulterlanges, lockiges Jahr. Ihr Gang ist anmutig-elastisch, ihre Hüften, die sich unter ihrem langen Rock abzeichnen, schwingen stets leicht mit, wenn sie über den Asphalt schwebt. Ihre gekräuselte Haarpracht schimmert matt-rot: Cristina – erfahren wir später – ist 34 Jahre alt und hält sich mit Tanzunterricht für Kinder über Wasser, denn eigentlich arbeitet sie als Theaterschauspielerin, spielt eine der „drei Schwestern“ Tschechows. Daher rührt auch ihre schmiegsame, verführerische Art sich zu bewegen, sei es im Alltag oder auf den Brettern, die die Welt bedeuten – und ihr scheinbar nichts. Schließlich wirkt sie bereits in der ersten Einstellung merkwürdig unkonzentriert, innerlich ausgebrannt. Als der herrische Theaterregisseur sie mehrfach barsch angeht, ist sie den Tränen nahe, steht nur noch neben sich … und scheint sich zu fragen, für wen sie das Ganze eigentlich mache.

So wie sich die Blicke der beiden in Florin Şerbans Spielfilm Box treffen, so stoßen im selben Atemzug auch zwei völlig konträre Milieus im gegenwärtigen Rumänien aufeinander. Der mysteriöse junge Mann – Rafael ist sein Name, wie sich bald herausstellt – stammt aus dem Proletariat und will sich als Boxer im wahrsten Sinne des Wortes nach oben kämpfen. Die introvertierte, ebenfalls recht schweigsame Cristina lebt in einer halbwegs gelungenen bürgerlichen Lebensform: Sie ist mit einem lokal bekannten Schauspieler zusammen und zugleich Mutter einer Tochter. Nur: Wahre Liebe sieht anders aus, es bleibt eher eine Zweckgemeinschaft.

Die Zeit vergeht nur langsam in Şerbans beinahe schon dokumentarisch inszenierten Spielfilm, was nur für den Film spricht. Hier muss man sich als Zuschauer oft genug selbst orientieren, die kurzen Begegnungen mit anderen, wenig empathisch gezeichneten Figuren alleine bewerten, denn vieles passiert nur im Modus des Vorbeigehens: Ein Spielfilm im unaufhörlichen Low-Level-Modus. Alles wirkt in der Autorenhandschrift des Rumänen, der 2010 mit seinem Debütfilm If I Want to Whistle, I Whistle für Furore gesorgt und bei der Berlinale gleich zwei Preise abgeräumt hat, seltsam gedehnt.

Die beiden permanent schwammig bleibenden Protagonisten oszillieren in ihrer Art zwischen Wut- und Mutlosigkeit, sie betören von Zeit zu Zeit durch ihr körperbetontes Spiel, ehe sie wieder in Blassheit erstarren. Gerade jenes Changieren der beiden zwischen den nicht minder farblosen Dialogzeilen und einigen kurzen, rapide daherkommenden Ausbrüchen aus dieser Farb- und Trostlosigkeit des gesellschaftlich-sozial weiterhin getrennten Landes zeichnet Şerbans zweiten Langfilm von Beginn an aus.

Subtile Töne des Begehrens wie Ausbrechen-Wollens durchziehen die insgesamt wirren Handlungsfäden von Box, der sich im besten Sinne keiner filmischen Kategorie zuordnen lässt. Nicht wirklich klassische Romantic-Comedy-Stränge verknoten sich dabei ansatzweise mit einer nur mäßig erfolgreichen Aufsteigergeschichte aus dem Coming-of-Age-Milieu des 19-jährigen Rafael. Handlungsarmes, aber visuell präzise auserzähltes Handkamera-Kino (Marius Panduru), das bewusste Leerstellen keinesfalls kaschiert, ist hier weniger zu erleben, denn zu durchforsten. Schließlich hadert Box mit der Ungerechtigkeit des wenig prosperierenden Landes, insbesondere in den von Korruption und Lügen geprägten Box-Milieu-Szenen, wodurch er im Subtext genauso das filmgeschichtlich weite Feld des „Problemfilms“ beackert.

Im nächsten Moment handelt er dann erneut von elliptischer Liebe: Zurückgenommen-unterkühlt in der Gestaltung – und gekennzeichnet durch ein auffälliges Desinteresse an handlungsforcierenden Drehbuchzeilen. „Wofür leben wir?“, möchte der rau agierende Theaterregisseur einmal von Cristina während der Probe wissen: Diese Frage bleibt natürlich unbeantwortet – wie so vieles in Box. Für wen inszeniert also Florin Şerban diesen Film? Ganz klar: Für Filmfreunde systemimmanenter Kälte, die sich an grandiosen Halbnahen ergötzen können, die nie auf ein erlösendes Lachen warten. Für alle also, die quasi unentwegt Röntgenbilder eines Landes im Umbruch auf der Leinwand sehen möchten.

Und natürlich ebenso für Verehrer wie Wegbegleiter des rumänischen Kinowunders, das seit nunmehr zehn Jahren auf vielen internationalen Filmfestivals zu bestaunen ist. Denn die „Nouvelle Vague Roumaine“ ist im Kern eine Schule des Sehens, weniger des Verstehens. Und erst recht nicht des Liebens, vielmehr des Fröstelns. Die Geschichten Radu Munteans, Peter Netzers, Corneliu Porumboius, Radu Judes oder Cristi Puius erzählen seit Jahren davon.

Fast schon zwangsläufig suchen viele Zuschauer dadurch frühzeitig den Notausgang aus diesen häufig karg-bitteren, genauso seltsamen wie beunruhigenden, trotzdem weithin faszinierenden Spielfilmen. Wie auch im Falle Florin Şerbans, der erst in der Schlusseinstellung das erste Mal das zeigt, was man in seinem persönlichen inneren Film bereits schon früher gesehen hat. Keine schlechte Ausbeute für 93 Minuten Kino.

Box

„Box“ erzählt die Geschichte des 19-jährigen Boxers Anghel und der 34-jährigen Schauspielerin Christina. Die Wege der Beiden kreuzen sich auf dem Heimweg von Probe und Training. Sie fühlen sich zueinander hingezogen und schlafen schließlich miteinander. Danach gehen sie wieder zurück in ihre eigenen und von Grund auf unterschiedlichen Leben.
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