Bombay Beach

Eine Filmkritik von Kirsten Kieninger

Mitten in der Wüste, am Rande der Gesellschaft

Ein Dokumentarfilm, der auf die Ästhetik und filmischen Mittel von Musik-Clips setzt, um soziale Realität abzubilden und seinen Protagonisten gerecht zu werden – geht das? Schon in Spielfilmen mutet es zuweilen seltsam an, wenn die Darsteller mitten in der Szene in Tanz und Gesang verfallen – man nennt es dann Musical. Aber ein Dokumentarfilm, in dem sich die Protagonisten plötzlich zu Musik choreografiert für die Kamera bewegen, geht das? Die Filmemacherin Alma Har’el hat genau das gewagt und liefert – nachdem sie vorher Musik-Videos inszeniert hat – mit Bombay Beach ihr ebenso unkonventionelles wie sehenswertes (Dokumentar-)Filmdebüt. Die Szenerie wirkt post-apokalyptisch: Ein riesiger Salzsee mitten in der Wüste, an seinen Ufern die Trümmer der Zivilisation und ein Häufchen Leute, die am Rande der Gesellschaft ihr Leben fristen. Noch in den 1950er Jahren war Bombay Beach, am Ufer des Saltonsees in Kalifornien gelegen, ein boomendes Ferien- und Angel-Resort mit schicken Häuschen und viel Fisch direkt vor der Haustür. Der Reklame-Spot aus den 1950er Jahren, der Bombay Beach eröffnet, preist das Leben am Strand an, lockt Leute in das traumhafte Paradies. Mit einem harten Schnitt holt die Regisseurin den Zuschauer in die heutige Realität vor Ort: Eine Geisterstadt wie aus einem Fiebertraum. Der steigende Salzgehalt und wiederholte Überschwemmungen haben zu Fischsterben, Abwanderung und Niedergang der Region geführt. Nachdem alle wieder gegangen sind, haben ein paar Leute aus der Peripherie der Gesellschaft hier ihren Platz gefunden; unter einer Sonne, die das Niemandsland in einem surrealen Licht erstrahlen lässt. Wenig mehr als 100 Menschen wohnen hier in halbverfallenen Häusern und verrottenden Trailern in der Wüste.
Alma Har’el konzentriert sich auf drei von ihnen: Da ist der alte Red, der seinen Lebensunterhalt bestreitet, indem er im Indianerreservat steuerfrei Zigaretten einkauft und sie mit Gewinn weiter vertickt. Dann hat er einen kleinen Schlaganfall, muss ins Krankenhaus und erholt sich in Fresno. Er ist heilfroh, dass er nach einiger Zeit wieder zu seiner durch Armut und Alkoholsucht geprägten Community in den Trailern von Slab City zurückkehren kann. Die „wild-romantische“ Seite dieser Lebensform wird übrigens in Into the Wild gestreift, wenn Alex Supertramp bei den Hippies dort am Salvation Mountain Station macht. Slab City „is made up for the misfits of the world“, sagt Red. „You have to improvise in order to survive“, ist sein Motto. Seine tiefe, melodisch-knarzende Stimme erzählt aus dem Off von seinem Leben, seinen Ansichten, seinen Träumen.

Ebenso erklingt die Kinderstimme des kleinen Benny Parish, der wundersame Dinge kundtut, wie etwa „I was in Jail for one hundred years“. Er war nicht im Gefängnis, seine blühende Phantasie und sein Bewegungsdrang jedoch wurden als bipolare Störung diagnostiziert und nun mit Unmengen von Tabletten im Zaum gehalten. Er selbst sagt, er sei verrückt, aber seine Mutter erklärt ihm liebevoll: „No you’re not crazy sweet, don’t ever think you’re crazy!“. In Beobachtungen wie diesen erkundet die Regisseurin Menschlichkeit und Zusammenhalt, die vor dem Hintergrund desolater Lebensbedingungen und harter Biografien noch stärker wirken. Bennys Eltern waren beide im Knast wegen Waffen- und Sprengstoffbesitz. Früher haben sie sich weniger um ihre Kinder als um ihr explosives Hobby gekümmert. Auf alten Familien-Videos sieht man den Vater in seinem riesigen „Trainings-Camp“ herumballern.

Auch vom dritten Protagonisten gibt es Archivmaterial. Es zeigt ihn bei der Beerdigung seines Cousins, der mit sechzehn von einer verfeindeten Gang in L.A. erschossen wurde. CeeJay ist daraufhin aus South Central zu seinem Vater in die Wüste geschickt worden, damit ihm ein solches Schicksal erspart bleibt. Mitten im Nirgendwo hat er bessere Perspektiven als am Rande des Banden-Kriegs in der Großstadt. Er geht nun als erster seiner Familie aufs College.

Bombay Beach ist in Alma Har’els Film ein seltsamer, surrealer Ort der Hoffnung. Die Erzählungen der Protagonisten geben der Szenerie stellenweise eine fast mythisch wirkende Anmutung, die an die Weltsicht der kleinen Hushpuppy aus Beasts of the Southern Wild erinnert. Immer wieder gleitet die Realität nahtlos ins Surreale und beobachtete Szenen verschmelzen mit choreografierten Sequenzen zu einem faszinierenden Trip an die ausfransenden Enden des Amerikanischen Traumes. Nur selten wirkt etwas aufgesetzt (wie der Streit von Ceejays Freundin mit ihrem Ex) und als Fremdkörper in diesem traumwandlerischen Fluss von Bildern.

Bombay Beach hat alles, was man sich von einem guten (Dokumentar-)Film erhofft: interessante Protagonisten, sympathisch aber mit Ecken und Kanten (so outet sich der nette alte Red ganz nebenbei als echter Rassist); eine Regisseurin, die Menschen nicht nur abfilmt, sondern ihr Leben und ihre Träume ernst nimmt (und die sie in den inszenierten Tanz-Szenen sogar mit in den Prozess der Filmgestaltung einbezieht); eine herausragende Musik-Auswahl (von Beirut und Bob Dylan); berauschend schöne Bilder (von Alma Har’el selbst gedreht). Und Bombay Beach hat noch mehr: Licht, Fantasie, Träume, Sehnsucht, eine nahezu hypnotische Wirkung.

Der Film taucht in eine soziale Wirklichkeit ein und transformiert sie zu einem eigenwilligen Gesamtkunstwerk, seltsam erhebend und verstörend zugleich. Und wenn man nach achtzig Minuten wieder aus diesem bewegenden Rausch der Bilder, Töne, Gesichter und Geschichten auftaucht, hallen diese noch lange nach. Das ungewöhnliche filmische Experiment „Documentary meets Musical“ ist Alma Har’el auf ganzer Linie gelungen.

Bombay Beach

Ein Dokumentarfilm, der auf die Ästhetik und filmischen Mittel von Musik-Clips setzt, um soziale Realität abzubilden und seinen Protagonisten gerecht zu werden – geht das? Schon in Spielfilmen mutet es zuweilen seltsam an, wenn die Darsteller mitten in der Szene in Tanz und Gesang verfallen – man nennt es dann Musical. Aber ein Dokumentarfilm, in dem sich die Protagonisten plötzlich zu Musik choreografiert für die Kamera bewegen, geht das?
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen