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In Lisa Brühlmanns mehrfach ausgezeichnetem Spielfilmdebüt „Blue My Mind“ durchlebt die 15-jährige Mia die Adoleszenz als Zeit einer beängstigenden Verwandlung, die für sie selbst bedrohliche Ausmaße annimmt.

Blue My Mind (2017)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Metamorphosen

Wer selbst Kinder hat, zumal solche, welche schon etwas älter sind, kennt die seltsame Zeit der Pubertät als Episode, in der manchmal beängstigende Verwandlungen vor sich gehen. Und manchmal reicht auch schon die Erinnerung an die eigene Adoleszenz. Es ist eine Zeit, in der sich der Körper neu formt, streckt, die Merkmale des Daseins als Erwachsener entwickelt und in der auch das Gehirn noch einmal neu zusammengebaut und umstrukturiert wird. Auch wenn dies ein völlig natürlicher Vorgang ist, so ist diese lebensgeschichtliche Episode dennoch mit vielen Ängsten verbunden, mit dem Gefühl, etwas nicht mehr im Griff zu haben und dem Ansturm der unbekannten Emotionen sowie des Abschieds vom Vertrauten nicht gewachsen zu sein. 

So ergeht es auch der 15-jährigen Mia (Luna Wedler, gerade auch in Das schönste Mädchen der Welt zu sehen), die gerade wegen eines Jobwechsels des Vaters mit den Eltern in eine neue Stadt umgezogen ist. In der neuen Schule sucht sie Anschluss an die Clique der coolen Gianna (Zoë Pastelle Holthuizen). In dieser Gang der unangepassten und ausgrenzten Jugendlichen mit vorwiegend migrantischen Wurzeln macht sie neue Erfahrungen mit Drogen, Sex und kleinen Akten der Rebellion. 

Doch es kommt noch etwas anderes hinzu – und das ist für Mia noch viel erschreckender: Mit ihrer ersten Periode beginnt sich auch ihr Körper in beängstigender Weise zu verformen und verändern. Als erstes merkt sie es an ihren Füßen: Zwischen den Zehen entstehen Schwimmhäute, dann sind ihre Beine von unten nach oben zunehmend mit seltsamen Flecken übersät, die es ihr irgendwann unmöglich machen, kurze Hosen zu tragen. Und es soll noch schlimmer kommen …

Bei ihren Eltern findet Mia keinen Halt, die beiden sind so sehr mit sich und der Aufrechterhaltung des gutbürgerlichen Scheins beschäftigt (sichtbar wird dies an der beeindruckenden Medikamentensammlung der Mutter), dass das zunehmend seltsame Verhalten ihrer Tochter niemals Verständnis, sondern viel eher offene Abscheu hervorruft. Und dass Mia den Verdacht hegt, dass sie vielleicht nur adoptiert sein könne, weil es keinerlei Bilder ihrer Mutter in der Schwangerschaft gibt, treibt die galoppierende Entfremdung natürlich noch weiter voran. Als Mia dann mit ihren Merkmalen einer animalischen Metamorphose eine Ärztin aufsucht, reagiert auch die zuerst mit professioneller Neugier und Zuwendung, dann aber ebenfalls mit kaum verborgener Abscheu.

Blue My Mind erinnert streckenweise an Céline Sciammas Girlhood (Bande de Filles), Léa Mysisus’ Ava und in Hinwendung an die Fantastik vor allem an Der Nachtmahr von AKIZ. In diesem Koordinatensystem zwischen Coming-of-Age-Drama und Fantasyfilm wählt Brühlmann schlussendlich eher den Weg des letzteren, ohne dabei aber die erste Perspektive auf ihre wundervolle Hauptperson jemals völlig aufzugeben. 

Auch stilistisch schlägt sich diese Ambivalenz auf der Leinwand nieder: Zwischen naturalistischer Handkamera und (alb)traumhaften Bildern von großer ästhetischer Qualität, unterstützt durch den gekonnten Einsatz von Farbfiltern, vermag es der Film, seine ZuschauerInnen in einen Schwebezustand zwischen Realität und reiner Imagination zu versetzen, der manchmal schwerelos durchs Wasser gleitet und dann wieder die ganze Härte einer Zeit voller Umbrüche und zwischenmenschlicher Bösartigkeiten mit kühlen Bildern auf den Punkt bringt.

Unter den deutschsprachigen Debüts der vergangenen beiden Jahre mit Sicherheit eines der stärksten – hier von einer Talentprobe zu sprechen, erscheint angesichts der starken Wirkung von Blue My Mind fast schon untertrieben.

Blue My Mind (2017)

Ausgerechnet das: Die 15-jährige Mia steckt mitten in der Pubertät, als ihre Eltern mit ihr in ein besonders hässliches Viertel von Zürich umziehen. Und dann eines Tages ist sie auch noch davon überzeugt, dass ihre Zehen zusammenwachsen — so denkt sie zumindest. An der neuen Schule freundet sie sich mit genau den Mädchen an, die Spaß, Abwechslung und neue Erfahrungen versprechen — denn schließlich ist sie gerade im Aufbruch zu einem neuen Leben.

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Meinungen

Dr. Kevin de Silva · 28.06.2021

Um es kurz zu machen: Hier widerspiegelt sich die Realität des Seins mit der Tatsächlichkeit der Phantasie als Symbiose. Gekonnt und ausgereift. Andererseits ist Vor-und Nachpupertät so ziemlich das Beste, was die Natur uns zu schenken vermag. Nichts geschieht zweimal. Traurig ist und bleibt das Wissen um die Vergänglichkeit der Jugend. Doch wir alle kommen nicht darum das Älterwerden nicht aufhalten zu können. Und zumindest D A S ist mehr als schlimm.