Bibliothèque Pascal

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Traumhafte Bilder eines Albtraums

Wenn die Realität unerträglich wird, helfen Träume. Das weiß das Kino seit seinen Anfängen. Aber immer wieder gab und gibt es Regisseure, die diese Wahrheit in besonders eindrücklicher Weise beherzigen. Der Ungar Szabolcs Hajdu gesellt sich mit seinem neuen Film Bibliothèque Pascal zu ihnen. Er lädt die sozialrealistisch grundierte Geschichte von Armut und Zwangsprostitution mit ebenso fantasievollen wie fantastischen Bildern auf. Eine Reise in die Welt der Gaukler und Überlebenskünstler, der Magier und Kartenleser — auf den Spuren solch bildgewaltiger Erzähler wie Federico Fellini oder Emir Kusturica.
Es ist die „Logik“ der Träume, die das Geschehen auf der Leinwand vorantreibt – Erwartungen an die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse darf man getrost zurückschrauben. Trotzdem wirft Szabolcs Hajdu die Realität nicht über Bord, sondern lässt sie im Kontrast zur Schönheit der Bilder umso schmerzhafter durchscheinen.

Würde man nur auf den realistischen Kern der Geschichte abheben, könnte man sie vielleicht so erzählen: Die alleinerziehende Mona, gespielt von Hajdus Ehefrau Orsolya Török-Illyés, möchte ihre dreieinhalbjährige Tochter zurückhaben, die sie bei ihrer Tante zurückgelassen hat. Dazu muss die junge Mutter dem Beamten vom Jugendamt aber erklären, wie sie die letzten Jahre gelebt hat. Sie muss ihm sagen, dass der Vater des Kindes ein Kleinkrimineller ist, der von der Polizei auf der Flucht erschossen wurde. Sie muss berichten, wie sie sich danach als Puppenspielerin auf Gauklerfesten durchgeschlagen hat. Und wie sie in die Fänge von Frauenhändlern geriet, die sie in England zur Prostitution in dem Luxusbordell „Bibliothèque Pascal“ zwangen, nach dem der Film benannt ist.

Das Gespräch mit dem Jugendamtsmitarbeiter ist zumindest die realistisch bebilderte Rahmenhandlung des Films. Ob allerdings Mona in ihrer dazwischen geschalteten Erzählung die Wahrheit sagt, steht auf einem anderen Blatt. Denn hier geht es ganz bewusst nicht um Fakten. Es geht um die subjektive Sicht einer vermutlich traumatisierten Frau, deren Erinnerungen ihr eigenes Gesetz haben. Das bewegt sich irgendwo zwischen Verklärung, Verdrängung, Albtraum und Märchen.

Szabolcs Hajdu und sein Kameramann András Nagy ziehen in Bibliothèque Pascal alle Register des Fantastischen: Sie machen aus einem biederen Volksfest eine Orgie der Eifersucht, sie verfremden eine ganz normale Strandszene zum Panoptikum skurriler Gestalten und verwandeln den Wiener Neustadt-Bahnhof in ein Labyrinth der Angst. Das Schwelgen in der Opulenz der Bilder gerät dabei nicht zur Kunst als Selbstzweck, sondern hält den Zuschauer mit kinogerechten Mitteln bei der Stange. Die märchenhafte Handlung schlägt immer neue Haken. Sie huldigt der Welt der Gaukler mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten, um das Publikum aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen zu lassen – ganz so, wie es der Film schon in seiner Frühzeit als Jahrmarktsattraktion vermochte.

Aber die bizarre Welt der Wunder hat eine Doppelfunktion: Sie verleiht einerseits der Heldin die Kraft der Fantasie, die ihr hilft, sich aus der Prostitution zu befreien. Aber sie verweist andererseits auch auf ganz reale Perversitäten. Für das pseudo-literarische Bordell mit seinen Bücherwänden und seinen nach Figuren der Weltliteratur inszenierten Fantasien (Jeanne d’Arc, Desdemona, Lolita) hat der Regisseur handfest recherchiert. Da wird der Traum zum – gottseidank nicht voyeuristisch ausgestellten – Albtraum.

Bibliothèque Pascal

Wenn die Realität unerträglich wird, helfen Träume. Das weiß das Kino seit seinen Anfängen. Aber immer wieder gab und gibt es Regisseure, die diese Wahrheit in besonders eindrücklicher Weise beherzigen. Der Ungar Szabolcs Hajdu gesellt sich mit seinem neuen Film „Bibliothèque Pascal“ zu ihnen.
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