Bevor der Winter kommt

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Verwirre mich!

Im Jahre 2008 legte der als Schriftsteller bekannte Franzose Philippe Claudel mit So viele Jahre liebe ich dich ein bemerkenswertes Spielfilmdebüt vor. Kristin Scott Thomas verkörpert darin eine Frau, die sich 15 Jahre in Haft befand, da sie den Tod ihres Kindes verursacht hat. In Claudels neuem Werk Bevor der Winter kommt ist Thomas nun erneut zu sehen – und abermals ist ihre Figur in gewissem Sinne eine Gefangene.
Lucie (Thomas) und der Neurochirurg Paul (Daniel Auteuil) sind „seit Ewigkeiten verheiratet“ und leben, wie es an einer Stelle treffend heißt, in einem „gläsernen Sarg“ – einem imposanten Gebäude mit großen Glasfenstern. Während sich Lucie um Haus und Garten kümmert (und diese beiden Schauplätze kaum je verlässt), ist Paul ein Workaholic, der die Anerkennung seiner Kollegen genießt. Eines Tages wird der etwa 60-jährige Arzt in einem Café von der Kellnerin Lou (Leïla Bekhti) angesprochen. Die attraktive, dunkelhaarige Frau behauptet, als Kind von ihm operiert worden zu sein – Paul kann sich allerdings nicht an den angeblichen Eingriff erinnern und weist Lous Dankbarkeit zurück. Alsbald tritt Lou an überraschend vielen Orten, an denen Paul sich aufhält, in Erscheinung. Überdies werden fortan unentwegt Rosensträuße in die Klinik und ins Zuhause von Paul und Lucie geschickt.

Dies mag nach einem Stalker-Thriller im Stile von Eine verhängnisvolle Affäre klingen – doch Claudel lässt die Regeln dieses Subgenres in vielerlei Hinsicht außer Acht. Der Autorenfilmer setzt nicht auf vordergründige Spannung und Psychopathie, sondern auf Subtilität und Komplexität. Lou ist zunächst eine überaus rätselhafte Gestalt; das intensive Verhältnis, das sich im Laufe der Story zwischen Paul und ihr entwickelt, ist weder von einer weiblichen, Glenn-Close-igen Obsession bestimmt, noch handelt es sich dabei um ein konventionelles Liebesabenteuer, in welchem ein älterer Mensch durch einen jüngeren noch einmal auflebt. Vonseiten Pauls geht es hier weniger um sexuelles Begehren, als vielmehr um eine als positiv empfundene Verwirrung – um ein reizvolles Aufstören.

Wie schon in Michael Hanekes Caché spielt Daniel Auteuil mit zahlreichen feinen Nuancen einen Mann, dessen bourgeoiser Lebensentwurf infrage gestellt wird. Kristin Scott Thomas brilliert indes in der Gattinnenrolle als fleischgewordene Melancholie. Paul und Lucie haben sich voneinander entfremdet; geblieben ist die bürgerliche Scheinidylle ihres Domizils. Der von Leïla Bekhti einfühlsam interpretierten Lou kommt in diesem Ehedrama wiederum nicht nur der Part eines Katalysators zu – der tragische Hintergrund der Figur entfaltet sich nach und nach, sodass aus dem Enigma ein erkennbarer Charakter wird.

Als weiterer wichtiger Akteur im Beziehungsgeflecht von Bevor der Winter kommt wirkt das Comédie-Française-Mitglied Richard Berry mit. Der von Berry dargestellte Therapeut Gérard ist der beste Freund von Paul und Lucie – und seit langer Zeit in Letztere verliebt. Mit Paul, Lucie und Gérard zeigt dieser Film drei Personen, die sich in ihrer verlogenen Welt eingerichtet haben – und er demonstriert den Schock, den eine solche Person erleidet, wenn sie plötzlich einen tiefen Einblick in sich selbst nehmen muss (wiewohl sie es von Berufs wegen doch eigentlich gewohnt ist, Leuten „ins Gehirn zu sehen“). Auf diesem Wege ist wunderbares Schauspielerkino sowie eine faszinierende Geschichte entstanden.

Bevor der Winter kommt

Im Jahre 2008 legte der als Schriftsteller bekannte Franzose Philippe Claudel mit „So viele Jahre liebe ich dich“ ein bemerkenswertes Spielfilmdebüt vor. Kristin Scott Thomas verkörpert darin eine Frau, die sich 15 Jahre in Haft befand, da sie den Tod ihres Kindes verursacht hat. In Claudels neuem Werk „Bevor der Winter kommt“ ist Thomas nun erneut zu sehen – und abermals ist ihre Figur in gewissem Sinne eine Gefangene.
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Meinungen

Hartmut T. · 16.11.2014

Ich war positiv überrascht. Ein auf raffinierte Weise spannender Film, von Anfang bis Ende. Und vielleicht noch danach. Atmospärisch einnerte er mich an Verfilmungen von Geschichten George Simenons (nicht Maigret!).
Ich kenne das Original zwar nicht, meine aber, dass die Synchronisierung überdurchschnittlich gut ist. Man merkt ihr nicht an, dass es ein französischer Film ist. Es gibt kein einziges "aber ja" oder "aber nein".