Bestie Mensch

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht

Dieser Schwarzweißfilm von Jean Renoir aus dem Jahre 1938 beruht auf dem berühmten, gleichnamigen Roman La Bête humaine des französischen Schriftstellers Émile Zola von 1890, der das Raubtier im Menschen zu einer literarischen Figur erhebt. Bestie Mensch / La Bête humaine , der in seiner Machart bereits die Schatten des Film Noir vorauswirft, entwirft ein spannendes Szenario der individuellen und sozialen Bedingungen, unter denen ein Mensch in dem Bemühen, persönliche existentielle Verluste zu vermeiden, zur Bestie werden kann.
Kraftvoll und mächtig rollt der Zug in den Bahnhof ein, begleitet von den routinierten Verrichtungen der Arbeiter auf der Lok, deren eingespielte Kommunikation kaum der Worte bedarf. Der passionierte Eisenbahner Jacques Lantier (Jean Gabin), ein schwermütiger Mensch mit der Neigung zu aggressiven, anfallartigen Ausbrüchen, übergibt seine Lok nach Schichtende an den Bahnhof und verbringt seinen freien Tag in der Umgebung von Le Havre, wo er seine Patin (Charlotte Clasis) und deren Tochter Flore (Blanchette Brunoy) besucht, mit welcher ihn insgeheim eine intime Beziehung verbindet, die er allerdings nicht zu vertiefen gedenkt, obwohl die junge Frau beteuert, dass sie ihn liebe und seine „Krankheit“ sie nicht abschrecke. Im Zug zurück in die Stadt begegnet er auf dem Gang der aparten Séverine Roubaud (Simone Simon), der Frau des Bahnhofsvorstehers Roubaud (Fernand Ledoux), die offensichtlich etwas zu verbergen hat. Und in der Tat hat ihr vor Eifersucht rasender Mann gerade in ihrem Beisein in einem Zugabteil ihren Paten, einen wohl situierten und angesehenen Adeligen ermordet, nachdem er erfuhr, dass Séverine einst in einem unschicklichen Verhältnis zu diesem stand.

Der Tote wird bald entdeckt, und der Lokführer Lantier sagt bei der Polizei aus, dass er niemanden auf dem Gang gesehen habe, nachdem ihm Séverine mit flehentlichen Blicken bedeutet hat, sie und ihren Mann zu schützen. So entsteht eine verschworene Verbindung zwischen den dreien, während der vorbestrafte Eisenbahner Cabuche (Jean Renoir) verhaftet wird, der gewaltige Aversionen gegen den Ermordeten hegt, der offensichtlich ein brutaler Liebhaber junger Frauen war. Rasch entwickelt sich zwischen Lantier und Séverine, die das Leben mit ihrem Mörder-Gatten kaum noch erträgt, eine innige Affäre, und die bedrückende Situation scheint nur eine drastische Lösung nahe zu legen: Roubaud muss beseitigt werden, damit Séverine und Lantier eine befreite, gemeinsame Zukunft haben können …

Bestie Mensch ist ein großartiger, seltsam berührender Film, dessen Bilder und Dialoge mehr andeuten als ausführen, welch komplexe Hintergründe die Motivationen der Figuren begleiten. Mit einiger Ausführlichkeit gezeigt hingegen werden das Bahnhofsmilieu und die Abläufe des Alltags, in denen sich die Stimmungen und Haltungen der Charaktere spiegeln, die in ihrer schicksalshaften Verlorenheit immer wieder um Fassung ringen. Da äußern sich moralische Ressentiments auf Grund unsittlichen Verhaltens gegen Frauen wie Männer, und doch fällt auf allen Seiten mit merkwürdiger Leichtigkeit und dennoch sehr ernsthaft erscheinender Inbrunst das große Wort „Ich liebe dich“. So stellt Jean Renoirs puristische Reflexion auf die menschlichen Verhältnisse auch eine kritische Betrachtung des vielschichtigen Sentiments der Liebe angesichts bedrängender existentieller Umstände dar, dessen Verortung zwischen einem schützenden, heilsamen Refugium vor den Unwegsamkeiten der eigenen sowie äußeren, feindlichen Attacken des Lebens und einem Rechfertigungsgrund für jede noch so unmoralische Handlung oszilliert, bis hin zum Mord – ein Szenario, dessen Inhalte auch siebzig Jahre nach dem Entstehen von Bestie Mensch, der erstmals in Deutschland auf DVD erscheint, nichts an ihrer Aktualität und Brisanz eingebüßt haben.

Bestie Mensch

Dieser Schwarzweißfilm von Jean Renoir aus dem Jahre 1938 beruht auf dem berühmten, gleichnamigen Roman La Bête Humaine des französischen Schriftstellers Émile Zola von 1890, der das Raubtier im Menschen zu einer literarischen Figur erhebt.
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