At Berkeley

Eine Filmkritik von Sebastian Moitzheim

Bildung für alle

Nach dem Kinobesuch von At Berkeley, Frederick Wisemans vierstündiger Dokumentation über die titelgebende kalifornische Universität, geriet meine Begleitung ins Schwärmen, schwelgte in Erinnerungen an ihre eigene Studienzeit, während ich mich wieder einmal daran erinnerte, warum ich, obwohl technisch gesehen Student, die Räumlichkeiten meiner Universität nur gelegentlich von innen sehe. In jedem Fall taugt der Film also als Projektionsfläche für die eigene studentische Erfahrung – wie auch immer man zu seiner Studienzeit steht, in irgendeiner Form kann man sich in At Berkeley wiederfinden. Wie immer verzichtet Wiseman auf Talking Heads, Voice-Over, selbst Untertitel, um die gezeigten Personen zu identifizieren, und diese (scheinbar) kommentarlose, lediglich beobachtende Präsentation lässt natürlich größtmöglichen Freiraum für eigene Interpretation und Urteile seitens des Zuschauers.
Das heißt allerdings nicht, dass Wiseman keinen eigenen Standpunkt hat – nur, dass er diesen dem Publikum nicht aufdrängt, sondern den Zuschauer auf subtile, aber eindringliche Weise dazu anleitet, selber die (aus Wisemans Sicht) richtigen Schlüsse zu ziehen. Das fängt schon beim Titel an: Nicht University (was eher in der Tradition älterer Wiseman-Dokus über öffentliche Institutionen – Hospital, High School, Zoo – gestanden hätte), sondern eben At Berkeley hat Wiseman seinen Film genannt. Berkeley hat unter den amerikanischen Universitäten eine besondere Position: Obwohl im Aufbau ursprünglich den Elite-Unis Harvard und Yale nachempfunden – und entsprechend prestigeträchtig sowie einem ähnlich hohen Standard verpflichtet – , ist Berkeley in seiner Philosophie so gar nicht elitär: Anders als Yale, Harvard und Co. ist Berkeley staatlich, nicht privat, finanziert und präsentiert sich als eine Universität, bei der Vielfalt und Chancengleichheit groß geschrieben werden. At Berkeley ist ein Film über das Zusammenprallen dieser Ideale mit der harten Realität. Da sucht ein Professor mit seinen Studenten Lösungen für das Problem, dass schwarze Studenten bei der Bildung von Lerngruppen diskriminiert bzw. übergangen werden, Studenten besetzen einen Leseraum, um gegen die Erhebung von Studiengebühren zu demonstrieren, und wie ein roter Faden ziehen sich Szenen in Fakultätssitzungen durch den Film, in denen genau solche Diskrepanzen zwischen Idealen und Realität, vor allem natürlich die Konsequenzen der sinkenden staatlichen Subventionen, diskutiert werden.
At Berkeley ist, unter anderem wegen solcher Szenen, streckenweise ein frustrierender Film. Recht spät im Film besuchen wir eine Vorlesung von Robert Reich (einst Arbeitsminister unter Bill Clinton), in der er sagt, dass Besprechungen an Universitäten doppelt so lange dauern würden wie anderswo, da alle Beteiligten so daran gewöhnt seien, sich selber reden zu hören. Diese Szene darf man wohl auch als ein Zeichen von Selbstironie seitens Wiseman verstehen, denn tatsächlich hört sich offensichtlich so ziemlich jede der im Film gezeigten Personen – Professoren wie Studenten – wirklich gerne reden, was die Geduld des Zuschauers doppelt fordert, wenn solch konkreten Problemen mit verschwurbelter Theorie begegnet wird. Nie ist das wahrer als in der letzten Stunde des Films, die Wiseman größtenteils den Protesten der Studenten gegen Studiengebühren und der Reaktion darauf durch die Universitätsverwaltung widmet und in der beide Parteien durch entweder absolute Realitätsferne (Studenten) oder das Verweigern eines echten Dialogs (Universitätsverwaltung) die Geduld des Zuschauers strapazieren.

Dies allerdings darf man At Berkeley auf keinen Fall zum Vorwurf machen – im Gegenteil ist es Zeugnis von Wisemans meisterhafter Beherrschung der Form, dass er all die frustrierenden Aspekte der Institution Berkeley so ausführlich zeigt und dennoch einen Film geschaffen hat, der am Ende als leidenschaftliches Plädoyer für allgemein zugängliche Bildung und das Fortbestehen öffentlicher Universitäten wirkt. Denn zwei Gedanken drängen sich mit fortschreitender Laufzeit des Films auf: Dass es geradezu ein Wunder ist, dass eine Institution von der Größe und Komplexität Berkeleys, mit all den Problemen, denen sie gegenübersteht, überhaupt funktioniert. Und dass es sich für die Menschen, die dieses Wunder vollbringen, lohnt, diese Arbeit auf sich zu nehmen. Berkeley mag nicht ganz die Utopie sein, die die noblen Ideale versprechen, aber man hat am Ende doch den Eindruck, dass der Großteil der dort arbeitenden, lehrenden und lernenden Menschen diese Ideale verinnerlicht hat und von ihnen zu teils beeindruckenden Leistungen inspiriert wird. Studenten bauen mechanische Vorrichtungen, die einen im Rollstuhl sitzenden Menschen gehen lassen und programmieren mit unendlicher Geduld Roboter, Handtücher zu falten (was zu einer seltsam spannenden Szene wird). Professoren verzichten auf die größeren Gehälter, die sie an Privat-Unis verdienen könnten, da sie an den Wert breit zugänglicher Bildung glauben. Und ja, auch wenn es oft anstrengend ist dabei zuzuhören und sie nicht immer zu einem Ergebnis kommen, führen sie alle doch die wichtigen Diskussionen, hinterfragen die Philosophie und Ideale ihrer Universität und deren praktische Umsetzung.

Und so lohnt es sich auch, die nötige Geduld für At Berkeley aufzubringen. Nicht immer ist sofort ersichtlich, warum Wiseman eine bestimmte Szene im Film behalten hat oder so lange dabei bleibt, wie er es tut. Doch Aufmerksamkeit und Ausdauer werden belohnt, nach und nach fügen sich die einzelnen Szenen zu einem Mosaik zusammen, das die Institution Berkeley in all ihren Facetten zeigt, und immer wieder werden scheinbar belanglose Szenen durch vorher etablierten Kontext zu Momenten von stillem Triumph oder subtilem Humor. So ist At Berkeley ein Film sich ständig im Kreis drehender Diskussionen und eintöniger Monologe, aber auch einer, in dem das Bild eines rasenmähenden Mannes beinahe heldenhaften Symbolwert besitzt.

At Berkeley

Nach dem Kinobesuch von „At Berkeley“, Frederick Wisemans vierstündiger Dokumentation über die titelgebende kalifornische Universität, geriet meine Begleitung ins Schwärmen, schwelgte in Erinnerungen an ihre eigene Studienzeit, während ich mich wieder einmal daran erinnerte, warum ich, obwohl technisch gesehen Student, die Räumlichkeiten meiner Universität nur gelegentlich von innen sehe.
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