An den Ufern der heiligen Flüsse

Eine Filmkritik von Falk Straub

Religiöser Rummelplatz

Eigentlich will der Filmemacher Pan Nalin seinem Vater nur eine Flasche heiliges Wasser vom größten hinduistischen Fest der Welt mitbringen. Als er nach Hause zurückkehrt, hat er jede Menge Geschichten und Material für einen Dokumentarfilm im Gepäck.
Überall Füße. Dicht am Boden bahnt sich die Kamera ihren Weg durch ein schier undurchdringliches Gewirr. Die nächste Einstellung verschafft dem Publikum mehr Überblick. Menschenmassen strömen zum Wasser. Es ist Kumbh Mela, das größte hinduistische Fest der Welt, das alle drei Jahre im Wechsel an einem von vier heiligen Orten gefeiert wird. Alle zwölf Jahre ist Allahabad an der Reihe, jener Ort, wo der Ganges, die Yamuna und der unsichtbare mythische Fluss Saraswati zusammentreffen. 2013 pilgerten bis zu 100 Millionen Gläubige an 55 Tagen dorthin, um sich mit einem rituellen Bad von ihren Sünden zu reinigen. Regisseur Pan Nalin hat sie mit seiner Kamera begleitet.

Einer seiner Protagonisten ist der zehnjährige Kishan Tiwari, der sich allein auf der Kumbh Mela durchschlägt. Von zu Hause ausgerissen, gibt sich das kleine Schlitzohr mit einem frechen Grinsen überall als Waisenjunge aus. Nach seiner Zukunft befragt, will er mal Mafiaboss, mal Sadhu, ein hinduistischer Mönch, werden. Schnell freundet sich Kishan mit den Sadhus Vivekanandji und Umeshji an. Deren Lebensinhalt besteht aus Yoga und Selbsterkenntnis. Letztere finden sie vornehmlich durch den Genuss von Marihuana. Kaum eine Szene, in der die beiden nicht zugedröhnt sind. Denn „Gott schuf das Gras, der Mensch den Alkohol“, weiß einer der heiligen Männer. Kishan ist meist mit von der Partie und mehr als einmal auf Droge.

Der 40-jährige Shuklaji wiederum folgt den Mönchen. Er bezeichnet sich selbst scherzhaft als ihr Sozialarbeiter, der für die Sadhus eine Brücke von der metaphysischen zur realen Welt schlägt. Bei aller Bewunderung äußert Shuklaji auch verhaltene Kritik. Für den 40-jährigen gibt es viele Möchtegernmönche, die ihr asketisches Leben mit Drogen verplempern. Ein wahrer Sadhu zeige sich hingegen durch seine Taten und nicht durch sein Äußeres.

Einer, der seinen Worten Taten folgen lässt, ist Hatha Yogi Baba. Nalin filmt den dürren Mann mit dem langen Bart, wie er mit verschlungenen Gliedern meditiert, mit verschränkten Beinen kopfüber in einem Baum hängt oder sich nur auf seinen Händen mühsam zum Fluss fortbewegt. Der Asket hatte der Welt zwölf Jahre lang völlig entsagt, dann hat er einen ausgesetzten Jungen aufgenommen. Das Kind habe es bei ihm besser als in jedem indischen Waisenhaus, argumentiert der Yogi. Der Zuschauer merkt Hatha aber auch an, wie gelegen ihm die gute Tat kommt. Denn die Einsamkeit der Askese tauscht er allzu gern gegen den sozialen Kontakt als Ersatzvater.

Mit ihrem Kind sind auch Mamta Devi und Sonu unterwegs. Doch der dreijährige Sandeep geht in der Menschenmenge verloren. Die Kamera begleitet die beiden bei ihrem verzweifelten Versuch, ihren Sohn wiederzufinden. Gemeinsam mit den Eltern steuert sie die Melde- und Sammelstellen an und trifft auf Unzählige, die dasselbe Schicksal teilen. Die Kumbh Mela ist noch nicht einmal zur Hälfte vorüber, da werden bereits 135.000 Menschen vermisst. Die Gründe bleiben unklar, werden von Behördenvertretern nie ganz offen ausgesprochen. Zwischen den Zeilen ist jedoch deutlich zu lesen: Die Vermissten sind vermutlich von Organhändlern entführt worden.

Regisseur Pan Nalin wollte einen Film über religiöse Hingabe machen. In einem Interview hat er sich kritisch über den Zustand des Glaubens in der Welt geäußert. „In unserer Zeit verlieren wir die Beziehung zur Religion, es geht nur noch um Macht, Politik, Fanatismus und die Kommerzialisierung des Glaubens“, hat Nalin darin gesagt. Doch die Kommerzialisierung hat die Kumbh Mela längst erfasst. Um dem Besucherstrom Herr zu werden, ist auf 55 Quadratkilometern eine gigantische Zeltstadt entstanden. Polizisten und Ärzte sind dort ebenso im Einsatz wie Händler, die eine schnelle Mark mit den Pilgern machen. In der Nacht gleichen Teile des Areals einer Amüsiermeile. Für den westlichen Betrachter hat das alles mehr von einem Musikfestival denn von einer Pilgerreise.

Pan Nalin ficht das nicht an. Seine Begeisterung für die religiöse Hingabe ist An den Ufern der heiligen Flüsse anzumerken. Die aufgezeigten Fehlentwicklungen, von Entführungen bis zur Kommerzialisierung, sind stets weltlicher Natur. Dass heilige Männer den ganzen Tag nichts besseres zu tun zu haben, als sich mit einem zehnjährigen Jungen zu bekiffen, stört den Regisseur wenig. Schließlich rückt Nalin den charismatischen Kishan, der den Sadhus mit seinen altklugen Lebensweisheiten ein ums andere Mal den Spiegel vorhält, in die Nähe religiöser Erleuchtung. Nach dem Ende der Dreharbeiten besucht der Regisseur den Ausreißer in seiner Heimat. Das trostlose Elternhaus macht Kishans Entscheidung, von zu Hause wegzulaufen, nachvollziehbar. Der Junge sitzt an einem Teich, wirkt nachdenklich. Nalin inszeniert diesen Moment wie eine Erweckung. Kishan spricht davon, nun selbst ein Sadhu zu werden. Der Regisseur scheint es ihm zu wünschen. Manch ein Zuschauer verlässt hingegen mit Magengrummeln das Kino.

An den Ufern der heiligen Flüsse

Eigentlich will der Filmemacher Pan Nalin seinem Vater nur eine Flasche heiliges Wasser vom größten hinduistischen Fest der Welt mitbringen. Als er nach Hause zurückkehrt, hat er jede Menge Geschichten und Material für einen Dokumentarfilm im Gepäck.
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