In aller Liebe

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

(Wahl-)Verwandtschaften in Lappland

Ein Mann geht mit einer weißen Bank auf einem felsigen Stück umher, positioniert die Bank, beschäftigt sich mit seinem Lichtmesser und macht ein Foto. Analog. Dann schnallt er die Bank wieder auf das Dach seines Geländewagens und fährt weiter, bis er in einem Fluss steckenbleibt. Zwar versucht er, sein Auto zu befreien, aber er kommt nicht mehr voran. Also wartet er. Und wartet. Irgendwann kommt ein zweiter Mann daher und hilft ihm aus seiner misslichen Lage.
Die Männer sind Toivo (Sampo Sarkola) und Ismo (Tommi Korpela), der eine Fotograf, der andere gerade aus dem Gefängnis entlassen. Sie könnten gegensätzlicher kaum sein: Toivo ist schmächtig, hilfsbereit, zurückhaltend und ruhig, Ismo ist breitschultrig, ein wenig grobschlächtig, aufbrausend und teilweise von beängstigender Ehrlichkeit. Nach diesem Zusammentreffen im Flussbett trennen sich vorerst ihre Wege. Toivo fährt weiter und begegnet schon bald Ansa (Krista Kosonen), die sich betrunken auf seine Bank setzen will, und wenig später deren Tochter Suvi (Aurora Kuusisto), der er eine Mitfahrgelegenheit anbietet. Dadurch landet Toivo wiederum in Ansas baufälligem Haus – und bleibt vorerst dort. Ismo kehrt indes auf den Hof seines religiösen Bruders zurück, wohnt in seinem alten Zimmer und einzig sein Neffe scheint erfreut, dass er wieder da. Dann zeigt sich, dass Toivo und Ismo auf besondere Weise miteinander verbunden sind: Ansa ist Ismos ehemalige Freundin, Suki seine Tochter. Aus Eifersucht hat er einen Mann getötet und dafür im Gefängnis gesessen. Aus dieser Verbindung entwickelt sich in In aller Liebe kein Drama oder eine Tragödie, sondern vielmehr beobachtet Regisseur Matti Ijäs mehrere Menschen, die ihren Weg im Leben suchen und dabei gefangen scheinen in den engen Begrenzungen, die dieser kleine Ort in Finnland ihnen setzt. Ihre Leben durchzieht eine inhärente Beschränktheit: Ismos Neffe leidet unter den Gewalttätigkeiten des Vaters und der religiösen Ignoranz der Mutter, Ansa hat zu viele Schulden bei ihrem Beinahe-Schwiegervater, Toivo glaubt unbeirrbar an eine Zukunft mit Ansa, während Ismo ihn warnt, dass Ansa ihn verlassen wird. Und diese Enge scheinen manche nur durch das Verlassen des Ortes überwinden zu können, Norwegen wird zum Einfallstor in ein potentielles neues Leben – und erweist sich dann doch immer wieder als zu nah an Finnland.

Im Verlauf des Films spinnen sich zwischen den Charakteren immer mehr Fäden, sie handeln widersprüchlich, mitunter kommt es auch zu überraschend zärtlichen Momenten. Jedoch ist der Film zu sehr auf Toivo konzentriert, um als Ensemblestück zu gelten, räumt den anderen Charakteren indes so viel Raum ein, dass man Toivo immer mal wieder aus den Augen verliert. Ansa hätte als Fixpunkt fungieren können, um die alle kreisen – und die von dieser Rolle überfordert ist. Jedoch erweisen sich dafür die Nebengeschichten um Ansas Tochter und Ismos Neffe als zu stark.

Gleich zu Beginn des Films erklärt Toivo Ismo – und später dann Ismo seiner Tochter –, dass sich Toivos Postkarten mit den weißen Bänken besser verkaufen lassen als ohne sie: die leere Bank lässt dem Betrachter Raum, den er nach Belieben interpretativ füllen kann. Dadurch sprechen diese Karten mehr Menschen an – und wenn man einmal nicht weiß, welche Art Karte man schicken möchte, wären sie die beste Alternative. Mit diesem Film verhält es sich ähnlich: Es lässt sich viel in die Beziehungen hineininterpretieren: Man kann den Film als Geschichte über einen Mann sehen, der durch die Frau zu einer Wahlgemeinschaft mit einer Tochter gelangt. Oder als Film über einen anderen Mann, der endlich Verantwortung für seine Taten übernimmt. Oder über eine Frau, deren Freiheitsdrang und innere Sehnsucht nach dem Meer so groß ist, dass sie sich einfach nicht binden will – und jeden Mann, der das von ihr erwartet oder erhofft, früher oder später verlassen wird. Oder über zwei junge Menschen, die den Taten und Entscheidungen der Erwachsenen nicht entfliehen können. Dadurch bietet In aller Liebe viel Interpretationsfläche, jedoch verpasst er auch die Gelegenheit, den Zuschauer zur Teilhabe am Geschehen auf der Leinwand zu bringen. Vielmehr verfolgt man diese Geschichte wie den Einfall mit der weißen Bank: mit einer gewissen Neugierde, aber ohne große Emotionen.

In aller Liebe

Ein Mann geht mit einer weißen Bank auf einem felsigen Stück umher, positioniert die Bank, beschäftigt sich mit seinem Lichtmesser und macht ein Foto. Analog. Dann schnallt er die Bank wieder auf das Dach seines Geländewagens und fährt weiter, bis er in einem Fluss steckenbleibt.
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