All Things Must Pass: The Rise and Fall of Tower Records (OmU)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Sex, Drogen und Vinyl

Bruce Springsteen hing dort ab, Dave Grohl hat dort gearbeitet und Elton John Unsummen ausgegeben. Die Rede ist nicht von einem angesagten Club, exquisiten Restaurant oder hippen Hotel, sondern von einem Plattenladen. Schauspieler Colin Hanks wechselt für All Things Must Pass erstmals bei einem Langfilm hinter die Kamera und geht dem Mythos Tower Records auf den Grund.
Bruce Springsteen nähert sich der Vergangenheit poetisch. Er erinnert Tower Records als „Ort, an dem deine Träume auf ihre Zuhörer treffen“. Elton John gibt sich großspurig. Kein anderer lebender Mensch habe in dem Plattenladen am Sunset Strip so viel Geld ausgegeben wie er. Archivaufnahmen zeigen, wie John mit einer ellenlangen Liste durch das Geschäft schlendert. Die Koteletten lang, die Haare bereits schütter, aber noch deutlich schlanker als heute, blickt er durch seine riesigen Brillengläser auf die Regale und gibt einem Begleiter an, welche Scheiben er einpacken soll. Zu diesem Zeitpunkt war der Plattenladen mit dem markanten roten Schriftzug auf gelbem Grund bereits in Los Angeles angekommen. Die räumliche Nähe zu den Labels, den ganz Großen der Musikindustrie spülte Größen wie Springsteen und John in den Store. Ein erster Meilenstein in der Firmengeschichte. Denn eine bessere kostenlose Werbung hätten sich die Macher nicht denken können. Wer mitreden wollte und darauf hoffte, einen Blick auf Jimmy Page, Eric Clapton oder Pete Townshend zu erhaschen, der kam hier her.

Es grenzt an ein Wunder, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Alles begann mit einer fixen Idee im knapp 600 Kilometer entfernten Sacramento. Russell Solomon erkannte früh die Interessen der kaufkräftigen Babyboomer und schlug seinem Vater vor, in dessen Apotheke, die eh schon allerlei Krimskrams anbot, auch Platten zu verkaufen. 1960 war Solomon schließlich stolzer Besitzer seines eigenen Ladens. In nur vier Jahrzehnten machte er aus Tower Records einen der weltweit größten Händler für Musik, Bücher, Filme und Videospiele mit Filialen in Europa, Südamerika und Südostasien. 1999 verbuchte Solomon einen Umsatz von mehr als einer Milliarde US-Dollar, fünf Jahre später war er bankrott. In der Rückschau klingt das gar nicht mehr so abwegig, wie es auf dem Papier ausschauen mag. Die Anzeichen für den Niedergang waren lange offensichtlich. Aber keiner wollte richtig hinsehen.

Schauspieler Colin Hanks hat dort selbst viel Zeit totgeschlagen. Tower Records war für ihn ein Ort, „um Freunde und Arbeitskollegen zu treffen oder neue Freunde zu finden, die eine ähnliche Liebe zur Musik, zur Literatur, allgemein zur Kultur teilten“. Vielen Amerikanern erging es ähnlich. Mehr als eineinhalb tausend unterstützten Hanks‘ ersten langen Dokumentarfilm als Regisseur auf Kickstarter. Er zahlt es ihnen mit einem unterhaltsamen Stück Zeitgeschichte zurück.

Hanks tut gut daran, den prominenten Musikern nicht zu viel Zeit einzuräumen. Denn bei allem Respekt vor deren Anekdoten wirken ihre Statements etwas zu clean, zu fein abgemischt. Den echten, dreckigen Sound liefern die Frauen und Männer hinter Tower Records. Allen voran Russ Solomon, der sich während der Interviews locker in seinen Sessel fläzt und beständig an seinem Whiskey nippt. Sein Alter sieht man dem weißhaarigen Kauz nicht an. Er ist Jahrgang 1925. Lässigkeit ist Solomons Credo. Bei Tower Records gab es keine Kleiderordnung (der Grund, warum Ex-Nirvana-Schlagzeuger Dave Grohl mit seiner langen Mähne dort anheuerte), keine starren Hierarchien, kein striktes Alkohol- und Drogenverbot. So lange die Kunden nichts davon mitbekamen und die Angestellten pünktlich zur Arbeit erschienen, war alles erlaubt. Das galt auch fürs Geschäft. Neue Filialen bauten die Mitarbeiter kurzerhand selbst, sie entwarfen Werbung und organisierten Konzerte in den Läden. (Wie das auch mal außer Kontrolle geraten kann, zeigt einer der Clips im Bonusmaterial.) Daraus entstanden unter anderem eine Werbeabteilung und das hauseigene Musikmagazin Pulse!. Solomon verstand sein Unternehmen stets als große Familie von Musikliebhabern für Musikliebhaber. Deren Motto: „No music, no life.“

Der Blick zurück ist euphorisch, wenn Solomons Mitarbeiter das wilde Treiben in den Hinterzimmern beschreiben – Cocktailpartys zur Arbeitszeit waren keine Seltenheit, Kokain verbuchten sie unter anderem Namen dreist als Spesen – und bis heute wehmütig, wenn es um das Ende der Firma geht. Solomons Angestellte waren keine Fachleute, hatten nicht Wirtschaft oder Management studiert. Ihre einzige Expertise war die Musik. Nicht selten heuerte Solomon sie direkt auf der Straße an. Mit der Firma wuchsen auch die Aufgaben. Nachbarn, Bekannte und Freunde arbeiteten sich von der Kasse bis ganz nach oben. Neben den Umwälzungen im Musikgeschäft war dies letztlich ein entscheidender Grund für den Niedergang, auch wenn sich die Protagonisten das bis heute nur schwer eingestehen wollen.

All Things Must Pass: The Rise and Fall of Tower Records ist eine Geschichte, wie sie nur der Kapitalismus schreibt, und wie sie Amerikaner mit Vorliebe zur Übertreibung, Exzentrik und Verklärung wunderbar erzählen. Es ist eine Geschichte von Aufbruch, Freiheit und dem Gefühl des anything goes. Eine Geschichte vom Traum, eine Firma abseits aller gewohnten Muster zu führen. Ganz nebenbei erzählt Colin Hanks eine kleine Geschichte der Musikindustrie: wie Michael Jacksons Thriller, MTV und die Digitalisierung das Business in den 1980ern unter Strom hielten und wie ihm Letztere im Internetzeitalter schließlich den Stecker zog. Musikliebhaber, die den Austausch mit Gleichgesinnten vermissen – nicht in den sozialen Netzwerken, sondern ganz klassisch: von Angesicht zu Angesicht im Plattenladen um die Ecke –, werden die Wehmut mit Russ Solomons Angestellten teilen. Sie sollten bedenken – alle familiäre Atmosphäre vor und hinter dem Verkaufstresen einmal beiseite gelassen –, dass auch Tower Records, je größer die Firma wurde, dem Plattenhändler um die Ecke den Saft abgedreht hat. Es war vielleicht nicht Colin Hanks‘ Absicht, aber All Things Must Pass handelt nicht nur davon, Sex, Drogen und Musik zu leben, sondern letztlich auch davon, diesen Lebensstil an die Frau / den Mann zu bringen.

All Things Must Pass: The Rise and Fall of Tower Records (OmU)

Bruce Springsteen hing dort ab, Dave Grohl hat dort gearbeitet und Elton John Unsummen ausgegeben. Die Rede ist nicht von einem angesagten Club, exquisiten Restaurant oder hippen Hotel, sondern von einem Plattenladen. Schauspieler Colin Hanks wechselt für „All Things Must Pass“ erstmals bei einem Langfilm hinter die Kamera und geht dem Mythos Tower Records auf den Grund.
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